»Bairani wird sich nicht mit einer Niederlage zufriedengeben.«
»Was meinst du, wird er tun?«
Die Kinnlinie von Jess verhärtete sich, als er antwortete: »Bairani hat überraschend viele Schiffe in letzter Zeit bauen lassen. Ich denke nicht, dass das alles war, was wir gestern erlebt haben. Wenn er sein Ziel erreichen will, muss er die anderen Mächte aus der Karibik zunächst vernichten oder vertreiben. Das kann er nur mit einer großen und schlagkräftigen Flotte erreichen.« Er stockte und presste die rechte Hand kurz auf die Tätowierung, bevor er wieder nach dem Ruder griff. »Ich bin mir inzwischen noch nicht einmal sicher, ob die Niederlage nicht sogar beabsichtigt war. Nur komme ich nicht dahinter, was das für einen Grund haben könnte.«
Eine dumpfe Ahnung breitete sich in Lanea bei diesen Worten aus. Hatte sie nicht auch das Gefühl gehabt, dass ihre Flucht mit dem Dolch der Thethepel vielleicht ein bisschen zu einfach gewesen war? Der Stich in ihr Herz, der folgte, verneinte die Frage. Ihr Vater und seine Freunde waren dabei umgekommen. Nein, einfach war es sicher nicht gewesen.
»Wie viel Zeit wird uns bleiben, was meinst du?«
»Wofür? Um die Gewässer zu verlassen? Ich fürchte, wir müssten bereits jetzt Kurs auf die Alte Welt setzen, statt unserem lieben Gouverneur noch einen Besuch abzustatten.«
»Ich dachte mehr daran, wie viel Zeit uns bleibt, um uns auf bevorstehende Kämpfe vorzubereiten.«
Jess wog nachdenklich den Kopf.
»Zu wenig, fürchte ich!«, entgegnete er langsam.
*
Torek wanderte ohne Ziel über die Insel. Von den Höhlen war er ins Dorf gelaufen, von dort die gesamte Bucht herunter und dann weiter zur Bucht der Schiffsbauer. Eine Weile hatte er dem Hämmern, Sägen und Fluchen der Arbeiter zugehört, bis es ihn rastlos weitergetrieben hatte.
Bairani hatte ihn heute Morgen nicht zu sich rufen lassen, wie er es in letzter Zeit immer getan hatte. Stattdessen hatte ihn der Wächter vor der Höhle des Obersten Sehers regelrecht abgewimmelt. In seinem Kopf wanderte die Frage nach dem Warum genauso ruhelos umher, wie er selbst. Das Gefühl, dass ihm etwas verheimlicht wurde, war stark. Bairanis Verhalten ärgerte ihn. Und er hatte noch nicht einmal die Möglichkeit, sich in seinen Visionen die Antworten zu Bairanis Gebaren zu holen. Er schien etwas vor ihm zu verbergen, und Torek war sich ziemlich sicher, dass es mit Morgan zu tun hatte. Auch wenn er bei dem Obersten Seher keinerlei Skrupel hatte, in seinen Visionen nachzusehen, wagte er diesen Schritt nicht. Bairani vereinigte die Visionen aus so vielen Sichtungszeremonien in sich, dass ein Durchkommen nahezu unmöglich war. Torek würde die Bilder nicht sortieren können, so wie er das bei anderen Sehern inzwischen mühelos tat. Die Angst, dass er sich in der unübersehbaren Flut verlieren konnte, war zu groß. Daher würde er sich auf seinen Instinkt verlassen müssen. Und der sagte ihm, dass ihm der Oberste Seher kein vollständiges Vertrauen schenkte.
Plötzliche Wut flammte in ihm auf und lähmte seinen Schritt. Bairani missbrauchte ihn für seine Zwecke und unterschied sich damit eigentlich nicht von den jungen Männern, die sich immer über ihn lustig gemacht hatten. Vielleicht lachte er ihn nicht aus, aber der Oberste Seher schien zu glauben, dass er Torek wie ein Werkzeug benutzen konnte. Grimmig knurrte der junge Seher vor sich hin. Vielleicht sollte er einmal beweisen, dass dies nicht so einfach war. Heute würden die Schiffe zurückkehren, die die Silberflotte angegriffen hatten. Torek wusste längst, dass die Monsoon Treasure nicht mehr unter ihnen war. Morgan war auf dem Weg nach Cartagena, in dem Glauben, zumindest für eine Weile eine kleine Atempause haben zu können. Ein Lächeln glitt über Toreks Miene. Der Gedanke an den Piraten besänftigte und versöhnte ihn. Mit einem tiefen Atemzug schloss er die Augen und glitt wie von alleine zu Jess Morgan. Er fand ihn auf dem Achterdeck der Monsoon Treasure, die gerade in Cartagena festmachte. Seine Hand lag auf der Tätowierung und fühlte den Schmerzen darin nach. Toreks Lächeln wurde breiter. Zufrieden beobachtete er, wie eine schwarze Kutsche in der Begleitung berittener Soldaten auf die Pier fuhr, als ein knackendes Geräusch ihn aus der Vision riss.
Überrascht erkannte er, dass er vor Durvins alter Hütte stand, nahe des Pfades, der zu den Höhlen führte. Noch weiter abseits des Dorfes lagen nur die Hütten Shamilas und der alten Merka, die direkt am Fuße des Vulkans lagen.
Torek sah unentschlossen den Pfad hinauf, der sich in kleinen Windungen zwischen den Hibiskussträuchern verlor. Er legte den Kopf ein wenig auf die Seite und betrachtete den schlichten Bau, der seit dem Verschwinden des Sehers leer stand. Auf den ersten Blick schien die Hütte noch bewohnbar zu sein. Kritisch musterte er das mit Palmblättern gedeckte Dach, in dem ein großes Loch gähnte wie in seinem Selbstbewusstsein. Er konnte das Loch reparieren lassen und die Hütte beziehen. Er würde seine Unterkunft in den Höhlen verlassen und damit für Bairani vielleicht ein Zeichen setzen können, dass er eigenständige Ansprüche hatte. Unsicher, ob er das wirklich wollte, wandte sich Torek zum Gehen, als ihn erneut ein Geräusch aufblicken ließ. Zwischen den Sträuchern tauchte die gebeugte Gestalt der alten Merka auf. Widerstrebend gestand Torek sich ein, dass diese Frau etwas Unheimliches an sich hatte. Ihre Bewegungen wirkten schwerfällig und steif, wie er es von alten Menschen kannte, doch etwas an Merka war anders. Die Bewegungen wirkten nicht echt. Unermüdlich suchte sie sich ihren Weg den teilweise steilen und unebenen Weg hinunter, der so manch jüngeren Menschen bei einer kleinen Unachtsamkeit zum Straucheln brachte. Doch trotz der von der Müdigkeit des Alters geprägten Ganges suchten sich ihre Füße sicher ihren Weg. Torek konnte nicht widerstehen und konzentrierte sich. Als er nach Bildern von der alten Frau greifen wollte, blieb sie stehen und sah ihn geradeheraus an. Ihre Miene verzog sich dabei zu einem finsteren Lächeln, über das ihre Falten wie ein Meer aus Wellen in Bewegung gerieten. Der Blick war dabei von einer beunruhigenden Klarheit und traf ihn wie ein Warnruf. Torek erstarrte. Wie alt mochte sie sein? Unsicher, weil sie immer noch nicht den Blick wieder abwandte, tastete er vorsichtig nach einer Vision über sie. Doch da war nichts, was greifbar gewesen wäre. Um sie herum flirrte und schimmerte eine seltsame Wand, die nachgab, wo er versuchte durchzudringen, aber letztendlich seinen Vorstoß nur in eine andere Richtung lenkte und den Zugriff auf ihre Vergangenheit oder Zukunft unmöglich machte. Selbst das Hier und Jetzt schien sich vor ihm verbergen zu wollen, obwohl sie doch nur wenige Meter von ihm entfernt stand. Unvermittelt fühlte Torek sich so unbeholfen wie noch vor Monaten. Die alte Frau war nicht im mindesten von seinen seherischen Fähigkeiten beeindruckt. Ihr Lächeln wurde abschätzig und schubste den Rest seiner Selbstsicherheit in den Dreck.
»Wer die Augen zu weit aufreißt, kann leicht geblendet werden und Schaden nehmen«, sagte sie. Ihr Lächeln war wie fortgewischt.
Diesmal musste Torek schlucken. Das hatte wie eine Drohung geklungen, oder nicht?
»Nur ein gutgemeinter Rat, junger Seher«, beantwortete sie seine unausgesprochene Frage und grinste jetzt breit. »Du solltest begreifen, dass sich dir nicht alles offenbaren kann. Die künftigen Zeiten sind und bleiben ein Geheimnis, selbst für einen so weitsichtigen jungen Mann, wie du es bist. Akzeptiere, dass deine Visionen nur Möglichkeiten in einem Spiel zeigen, dessen Einsatz du selbst bestimmen kannst.«
Wut loderte in ihm auf und wurde doch gleich wieder von den durchdringenden Augen der alten Merka zertreten, bevor sie in Flammen aufgehen konnte. Wer war die alte Frau? Wieso verbarg sich ihr Schicksal vor ihm und wie stellte sie es an?
Ein erheitertes Kichern schüttelte den Körper Merkas. Mit ihrer dürren Hand umfasste sie den Stock, auf den sie sich stützte, fester. Der Handrücken war knotig und mit Altersflecken übersät. Man konnte meinen, dass sie so alt wie diese Insel war.
»Du bist so ein schlauer Junge, Torek«, sagte sie vergnügt. »Konzentrier dich lieber auf die Möglichkeiten, die das Schicksal dir zu Füßen legt.« Damit deutete sie in Richtung Dorf. Torek folgte mit den Augen in die angegebene Richtung. Sein Herz schlug augenblicklich schneller, als er Shamila erkannte. Zielstrebig wanderte sie den Berg hinauf und hob einen Arm zum Gruß, als sie die beiden entdeckte.
»Es gibt einen Weg abseits der Macht. Ein Weg, auf dem Frieden und ja, sogar Glück dicht beieinander