Sie leuchtete den Raum ringsum ab, hielt angewidert inne. Sie hob den freien Arm, stützte sich an einer Wand ab und beugte sich vornüber. Sie erbrach sich auf die Fliesen, entdeckte erst jetzt den Kinderarm, der dort auf einem Haufen Kehricht lag, und hetzte orientierungslos aus dem Raum. Der Anblick eines metallenen Tisches mit abgetrennten menschlichen und tierischen Gliedmaßen war für sie zu viel gewesen.
Als sie die Augen aufschlug, fand sich Britta ein einem leeren, fahl und flackernd ausgeleuchteten Zimmer wieder. Sie kauerte auf dem Boden, fror. Die Kälte kam von innen. Langsam stieg die Erinnerung in ihr hoch. Sie rief sich die Stationen des Abends ins Gedächtnis. Babysitting, die missgebildeten Gliedmaßen der Häusler-Kinder, der Hobbyraum, der Gang, die Operationsbestecke, amputierte, teils skelettierte Gliedmaßen. Und das alles in und unter einem Reihenhaus von gerade mal acht Metern Breite! Absurd!
Reiß dich zusammen! Du träumst. Wenn du willst, kannst du jederzeit aufwachen.
Aber wollte sie das überhaupt? Dieser Traum hatte ihr jetzt schon so viel Horror beschert wie all die Filme zusammen, für die sie im vergangenen Monat ihr Taschengeld und ihr kleines Einkommen aus dem Babysitten in die Kinos und Videotheken getragen hatte. Manche Nacht hatte sie die Horrorfilme unmittelbar vor dem Einschlafen geschaut, um sie in ihren Träumen fortzusetzen oder, wenn ihr das Ende nicht gefallen hatte, mit einem anderen Ausgang zu versehen.
Das hier war das Nonplusultra!
Britta stand auf, ballte ihre Hände zu Fäusten und stieß sie forsch mit einem wenn auch gehauchten, so dennoch kampfesmutigen »Ja!« vor ihrem Körper nach vorn. Sollten die Zombies doch kommen!
Sie beugte sich zum Boden, hob ihr Smartphone auf und schickte sich zur Erkundung der restlichen Räume an. Zwei blieben noch.
Mutig beugte sie sich durch den Eingang in den ersten. Wieder metallene Tische, beladen mit menschlichen und tierischen Torsi und Gliedmaßen. Innereien auf dem Boden. All das und auch der Kopf eines Jugendlichen konnten sie nun nicht mehr aus der Fassung bringen. Sie richtete sich auf und schritt zum letzten Raum.
Sie stieß die Tür auf und trat ein, den Blick dem Lichtschein ihres Smartphones auf den Bodenfliesen folgend. Im Raum erst blieb sie stehen, hob Smartphone und Blick, verharrte stocksteif. Eine Gestalt, groß wie ein Kind, starrte sie von der gegenüberliegenden Wand an. Beide schrien in gegenseitigem Erschrecken auf, Britta fiel das Smartphone aus der Hand, es landete mit dem Display nach unten. Dunkelheit, Schreie von allen Seiten. Flucht! Aber wohin? Den Ausgang hinter sich konnte Britta nicht sehen, sie stand sich selbst im Licht.
Sie griff nach dem rot umrandeten Rechteck auf dem Boden, leuchtete rundum in den Raum, hielt den Schreien stand. Missgestaltete Körper, angekettet an die Wände, allesamt durch Körperteile anderer Spezies entstellt, angenäht, angesetzt wie Prothesen.
Todesangst griff nach Brittas Herzen, hielt es in ihren Klauen eng umklammert, presste es zusammen.
Britta rannte, rannte auf das helle Viereck vor ihr zu, den rettenden Ausgang, den Weg aus diesem Albtraum, diesem Horrormärchen, das sie nun doch nicht mehr durchstehen wollte.
Ein Mann trat in das Viereck, kaum, dass sie zwei Schritte getan hatte. Er hatte die Tür von einem Nachbarzimmer aus aufgestoßen und eilte auf Britta zu. In einer Hand hielt er einen faustgroßen Wattebausch, in der anderen eine braune Flasche, deren Glasstöpsel fehlte. Britta flog ein Hauch von Chloroform entgegen. Sie prallten zusammen, der Wattebausch schnellte auf ihr Gesicht zu, verdeckte Nase und Mund. Britta versank in einer wohltuenden Schwärze.
Der Morgen graute, als Häuslers heimkehrten. Ein schlechtes Gewissen brauchten sie nicht zu haben, ihre Babysitterin hatte gewusst, dass es sehr spät werden könnte, und sie war einverstanden gewesen. Die Couch war bequem, und Frau Häusler hatte ihr zwei Wolldecken und ein frisch bezogenes Kopfkissen hingelegt gehabt.
Britta erhob sich von der Treppenstufe, auf der sie gewartet hatte, bis sie die Diele betraten.
»Na«, grüßte Frau Häusler, »war etwas Besonderes?«
Britta konnte nicht antworten. Damit es besser anheilen konnte, war ihr Wolfsmaul noch zugenäht.
***
»Die Babysitterin« war 2019 mein Beitrag zur Ausschreibung »Schubladengeschichten« und schaffte es aus 123 Einsendungen unter die 13 in Band 1 abgedruckten Preisträger.
© Cover: Verlag Textgemeinschaft, 2019
»Die Babysitterin« in: Schubladengeschichten, Anthologie. Verlag Textgemeinschaft, 07.12.2019
Carola Käpernick (Hrsg.): »Dieses Buch entstand durch einen Schreibwettbewerb. Diese Beiträge haben sich … als die besten herauskristallisiert.«
***
Abserviert
Ich könnte von früh bis spät heulen.
Gestern Morgen habe ich ihn gefunden, Julias Zettel mit den knappen Worten »I´m sorry!«.
Ihr Versuch, mit ihrem wenigen Englisch die Tatsache ins Lächerliche zu ziehen, dass sie mir ihren Verlobungsring auf einem abgerissenen Stück Papier liegenlässt, gibt mir den Rest. Stillos, einfach so auf dem Küchentisch. Eiskalt serviert sie mich ab, verdrückt sich klammheimlich, hält nicht einmal eine Erklärung für nötig.
Wenn ich den Ring und den Zettel nur ansehe, schnürt sich mir die Brust zusammen, und ich drehe mich weg.
Der Abend vorgestern hatte sich in die Länge gezogen, er war sehr nett gewesen. Mit keiner Silbe hat sie auch nur angedeutet, dass sie mich verlassen wollte. Freilich musste sie gestern recht früh nach Koblenz zurück, als ich noch schlief. Sie arbeitet dort, und dort haben wir auch ihre Wohnung geteilt. Wir hatten uns spontan ineinander verliebt, und einen Monat später zog ich mit meinen wenigen Sachen bei ihr ein. Die Schmetterlinge im Bauch kamen nicht zur Ruhe. Von einer gemeinsamen Zukunft träumten wir, schmiedeten Hochzeitspläne. Hat sie das überfordert? Nie hat sie den Anschein erweckt, nicht vollkommen in der Vorfreude auf ein Leben zu zweit und später als Familie aufzugehen.
Der gestrige Tag kam mir vor wie das Fegefeuer: Ich bin benommen, kann mich nicht konzentrieren, will mich niemandem anvertrauen, obwohl alle merken, dass mit mir etwas nicht stimmt. Gefühlte fünf Minuten nur halte ich es aus ohne einen weiteren Versuch, Julia anzurufen. Ein paar Abschiedsworte wenigstens, eine Begründung! Das ist doch das Mindeste, das ich verlangen darf. Womit verdiene ich diese rüde Behandlung, diese Missachtung? Keine Antwort, ihr Handy ist ausgeschaltet, ihr Telefon nimmt sie weder im Büro noch abends zu Hause ab.
Die Nacht über bekomme ich kein Auge zu. Ich grüble, bin irgendwann überzeugt, die Erklärung für Julias schnödes Verhalten gefunden zu haben.
»Das machst du nur, damit du näher bei deiner Mutter bist.«
»Stimmt doch gar nicht, ich tu´s für uns.«
»Muttersöhnchen!«
Ich hielt ihre Bemerkung für einen Scherz, sie hatte schließlich dazu gelacht.
Freudestrahlend hatte ich ihr vor zwei Wochen die Zusage auf meine Bewerbung gezeigt, sie strahlte. Ich dachte, sie freut sich mit mir. Schließlich tue ich es für uns beide. Es fällt mir nicht leicht, aus dem beschaulichen Städtchen am Deutschen Eck, dem Zusammenfluss von Rhein und Mosel, wegzuziehen. Ich bin dort aufgewachsen, zur Schule und in die Lehre gegangen, habe mit meiner Mutter zusammen gewohnt, bis ich erwachsen war und sie in Bayern einen neuen Lebensgefährten fand. Sie hat meine Pläne stets unterstützt, sich nie in mein Leben eingemischt. Ich bin kein Muttersöhnchen, Julia weiß das! Und