Im Wohnzimmer stand ein Reisekinderbett.
»Thomas schläft nur ein, wenn jemand bei ihm ist und wenn Licht brennt. Er hat verstanden, dass du heute auf ihn aufpasst, er hat den ganzen Nachmittag neugierig gewartet. Wenn du ihm eine Geschichte vorliest, ist er eingeschlafen, bevor du ans Ende kommst.«
Sie drückte Britta ein Märchenbuch in die Hand. Der papierne Einband zeigte in Braun- und Grautönen orientalische Motive.
Na prima, Hauffs Märchen! Davor hatte ich mich noch als Zehnjährige gefürchtet. Dunkel erinnerte sie sich. Das hier musste der erste der drei Bände sein, der düsterste.
Laut sagte sie: »Da werden Kindheitserinnerungen wach. Ich hab´ das früher selbst gelesen. Da war ich aber schon älter.« Sie lachte Frau Häusler an.
»Wir müssen los«, tönte es von unten. Herrn Häuslers Stimme vibrierte vor Ungeduld.
»Bin schon unten!«
Frau Häusler war aus dem Wohnzimmer getreten, hatte sich über das Treppengeländer gebeugt. Gleich darauf stand sie wieder vor Britta.
»Also, wenn dir die Limonade hier nicht reicht …« Ihre Hand zeigte auf den Teewagen mit der Flasche und dem Glas neben der vollen Gebäckschale. »… dann geh runter in die Küche. Im Kühlschrank ist mehr. Die Fläschchen der Kleinen stehen neben den Flaschenwärmern auf der Arbeitsplatte vorm Fenster. Wenn du die Zwerge wickeln musst, findest du alles im Wickeltisch in den Kinderzimmern.«
Britta fand, ihr Blick läge etwas zu lange auf ihr. Stand hier Misstrauen Pate? Oder doch nur Sorge?
»Meinst du, du kommst zurecht?«
»Na klar, Frau Häusler. Es ist ja nicht das erste Mal.«
»Ach, fast hätte ich es vergessen. Unten im Haus wohnt mein Vater. Aber dem wirst du kaum begegnen.«
Kurz bevor die Haustür ins Schloss fiel, verstand Britta noch ein paar Brocken aus dem Gespräch der Häuslers. Der letzte Satz gab ihr zu denken.
»Ich hab´ so ein ungutes Gefühl.«
Thomas hörte die Geschichte von der abgehauenen Hand ohne Gefühlsregung. Stumm lauschte er Brittas lebhafter Stimme, die dem in Konstantinopel geborenen Zaleukos neues Leben einhauchte, indem sie zu den ihm angedichteten Episoden einschließlich des ihm aufgezwungenen Mordes und der als Strafe folgenden Amputation stets den angemessenen Tonfall fand. Wie von Frau Häusler vorhergesagt, schlief er ein, bevor die Erzählung endete.
Britta las den finsteren Schluss der vielschichtigen Geschichte um Liebe, Untreue und Rache leise für sich. Das dauerte lange, immer wieder fielen ihr die Augen zu, immer wieder nickte sie ein.
Britta beugte sich zur Seite, zog den MP3-Player aus ihrer Umhängetasche, wickelte das Kabel der Ohrhörer ab und stopfte sich die weißen Silikonpolster in die Ohren. Als sie ersten Takte der Puppe von Rammstein hörte, erhob sie sich zu ihrem Erkundungszug durchs Haus.
Sie begann mit dem Bücherregal, das eine Schmalseite des Wohnzimmers füllte. Bram Stokers »Drakula« und Mary Shelleys »Frankenstein or The Modern Prometheus«, letzterer wohl in der englischen Originalfassung, ließen sie kalt, aber die scheinbar komplette Sammlung der Werke Stephen Kings begeisterte sie. Sie griff nach dem »Friedhof der Kuscheltiere«, ihrem Lieblingsroman, las wahllos drei, vier Absätze und schob das Buch zurück. Auf dem Regalbrett darunter suchte sie, ob sie mit den zahlreichen Anatomiebänden etwas anfangen könnte. Eine morbide Faszination ging besonders von den detaillierten Zeichnungen aus.
Die beiden Kinderzimmer – Thomas hatte seines neben dem Wohnzimmer – untersuchte sie nur kurz. Der Überblick diente der Orientierung, falls sie von hier später wirklich etwas benötigen sollte.
Das Schlafzimmer war interessanter. Die Herrenbekleidung war für die Vierzehnjährige nicht wichtig. Aber der Schrank von Frau Häusler faszinierte sie, besonders die Spitzenwäsche hatte es ihr angetan.
Sie ging die Treppen ganz hinab, erreichte am Ende zwei Blechtüren, die zu Waschküche und Heizraum führten. Die Tür nach rechts war verschlossen. Um ihre Neugierde wenigstens im Ansatz zu befriedigen, klappte Britta den kleinen Wandspiegel daneben zur Seite, der zwei Fingerbreit von der Tapete abstand. Dahinter zeigte sich ihr eine Kunststoffklappe, an der sie aber kein weiteres Interesse fand. Sie kehrte um.
In der Küche entdeckte sie auf den ersten Blick die Fläschchen, aber die sollte sie den Zwillingen und Thomas ja nur geben, wenn sie aufwachten und Hunger hatten. Sie schaute in den Kühlschrank. Auf die Cola hatte sie mehr Appetit als auf die Zitronenlimonade, die oben auf dem Teewagen stand. Sie nahm die Flasche und ging wieder hoch.
Auf halber Höhe betrat sie nochmals das Schlafzimmer. Sie zog sich aus und legte ihre Kleidung auf das Ehebett. Aus Frau Häuslers Schrank griff sie mehrere von deren Spitzendessous, stellte sich vor die mittlere Spiegeltüre und hielt die Teile vor sich. Sie entschied sich für die schwarze Garnitur mit den Strapsen, nachdem ein weiterer Blick in den Schrank ihr auch die Strümpfe gezeigt hatte, die ihr bis über die Knie reichten. Derart in schwarze Spitze gekleidet, schlüpfte Britta in ihre Schuhe, drehte sich vor dem Spiegel und betrachtete sich zufrieden von allen Seiten.
Danach wollte sie wieder ins Wohnzimmer und auf ihrem Tablet-PC YouTube-Videos schauen. Besonders begeisterten sie die von Überwachungskameras, vor allem jene, in denen Angestellte oder Babysitter vorgeführt wurden, wie sie ihre Arbeitgeber beklauten oder Kleinkinder misshandelten. Sie wusste, dass sie dafür beinahe ewig Zeit hatte, bevor die Häuslers zurückkehrten, und möglichst lange so angezogen zu sein, erregte sie.
Sie beschleunigte ihren Schritt, als sie Thomas´ unruhiges Quengeln hörte. Auf der zweiten Stufe machte sie kehrt. Mit dem Fläschchen aus der Küche rannte sie die Treppen wieder hinauf. Ans Warmmachen hatte sie zwar gedacht, aber dann jammerte der Junge noch länger, und sie wollte das Balg doch schnellstmöglich beruhigt haben.
Britta fluchte. Verfluchte den Zweijährigen. Zwar konnte er nichts für das Ungemach, das auf Britta wartete, aber sie hatte es auszubaden und hatte wirklich keine Lust dazu. Schließlich war es nicht ihre Brut! Oder doch, für diesen einen Abend? Mit einem Fauchen betrat sie die Wohnstube ganz. Schon beim Öffnen der Türe hatte sie gerochen, dass Thomas nicht schrie, weil er Hunger hatte.
Britta hatte sich beruhigt. Mit festem Griff unter beide Achseln trug sie den Jungen aus dem Klappbettchen in sein Zimmer nebenan. Auch hier stand eine Wickelkommode. Sie legte ihn auf die abwaschbare Matratze, kramte hinter den beiden Türen darunter nach Einwegwindel, Puder und Babyöl und legte alles griffbereit neben den Schreihals.
Panisch warf sie die Strampelhose zur Seite. Sie hatte Thomas gewickelt, die alte Windel im Windeleimer entsorgt, ihn feucht abgewischt, eingeölt und gepudert. Seinen Strampler hatte sie ihm bis zu den Knien herabgezogen gehabt und erst beim Anziehen festgestellt, dass auch der gewechselt werden musste. Frische Kleidung hatte sie in der Wickelkommode genug gefunden. Nun stand sie vor dem Kleinkind und hyperventilierte. Ihr Herz schlug bis zum Hals, ihren Herzschlag spürte sie nicht, so raste ihr Puls. Sie biss sich fest auf die Lippe, konnte ihren Schrei auf die Weise gerade noch unterdrücken.
Thomas hatte keine Füße! Seine Beinchen endeten in zwei haarigen Auswüchsen, die sich ihrerseits in schwarze Hufe gabelten. Der Satyr prallte in ihr Gedächtnis, der Flöte spielende Waldgeist mit Bocksfüßen.
Irgendwann hatte sich Britta wieder gefasst, die Missbildung des Kleinen erregte ihr Mitleid. Sie stieß sich von der Wand ab, die ihr die Schrecksekunden lang Halt geboten hatte. Sie zog ihn fertig an, nahm ihn auf den Arm, streichelte