»Sie sehen traurig aus, Lena.«
»Ich bin traurig, Wolfgang. Seit einer Ewigkeit sehe ich Lisa nicht mehr.«
»Ihre Herrchen lassen sie nicht mehr von der Leine, seit sie Ärger mit der Friedhofsverwaltung hatten. Und auf ihre letzten Tage hier wollen sie nicht nochmal riskieren, dass Lisa ausreißt. Sie ziehen weg.«
Mit schreckgeweiteten Augen sieht sie mich an.
»Arme Lisa, wie kann man ihr das antun? Wenn ich das geahnt hätte!«
Tränen steigen ihr in die Augen.
Die folgenden Tage halte ich mich kaum im Wohnzimmer auf. Ich habe mir einen Lehnstuhl vors Schlafzimmerfenster gezogen und verbringe darin die hellen Stunden. Meine Wache verspricht sich zu lohnen! Das Paar zerrt Lisa wieder die Straße entlang. Wie der Blitz bin ich draußen, hetze den dreien nach.
»Verzeihen Sie! Ich habe gehört, Sie ziehen fort. Was ist mit Lisa? Nehmen Sie sie mit?«
»Das geht leider nicht, wir ziehen in eine …«
»Sie kommt ins Tierheim, basta.« Mit kalter Stimme schneidet sie ihrem Mann das Wort ab, wendet sich mir zu. »Und was, bitte, geht Sie das an?«
»Wenn Sie Lisa nicht mitnehmen dürfen … ich würde gern, also, ich wäre bereit…«
»Nun stottern Sie nicht rum! Sie würden sie nehmen?«
Ich habe einen Kloß im Hals, nicke nur.
»Dann kommen Sie heute Abend in die Sonnenstraße 42. Um 18 Uhr. Sie holen Lisa, ihr Körbchen, Futter und noch ein paar Sachen. Seien Sie pünktlich, ich warte nicht gern! Guten Tag!«
Ich schlucke. Der Kloß ist weg, aber reden kann ich immer noch nicht. Sie sind außer Hörweite, als ich ihnen ein »Auf Wiedersehen, bis heute Abend, und danke!« nachrufe.
Am nächsten Tag gehe ich mit Lisa an der Leine zum Ende der Kinzingstraße und noch ein Stück weiter. Ich lasse Lisa frei, sie läuft neben mir, wir biegen in die Bogenstraße ein, ich setze mich auf unsere Bank, und wir warten. Schritte kommen auf uns zu, werden schneller. Eine einzelne Person. Sie beginnt zu rennen.
»Lena! Hallo!« begrüße ich sie. Ich fühle mich ignoriert, bin in meinem Innern aber voller Freude, kichere lautlos in mich hinein vor Rührung.
»Lisa!« Sie kniet sich zu ihrem Spitz, streichelt, tätschelt den weißen Vierbeiner, erhebt sich und gibt mir einen Kuss auf die Wange.
»Danke, Wolfgang! Kommt ihr nun öfter? Ich habe gesehen, dass du eingezogen bist und oft vom Wohnzimmer aus herüberschaust.«
»Ich habe vielleicht eine bessere Idee.« Ich zwinkere ihr zu.
Zu dritt steigen wir aus dem Golf. Ich knipse den Karabinerhaken an Lisas Halsband. Auch in diesem Park sind Hunde nur an der Leine geduldet. Auf den Neuwieder Friedhof hinter unserem Garten müssen wir nicht mehr. Lena wohnt jetzt bei mir und Lisa.
***
Die Kinzingstraße und das Haus gibt es wirklich. In Neuwied am Rhein. Der Garten grenzt an den Friedhof. Die Gründe, die mich in den 90er Jahren vom Kauf abgehalten hatten, waren aber andere als der Spuk, der von dort ausgehen könnte.
»Zweiter Frühling« belegte beim Schreibwettbewerb des Schreiblustverlags im November 2019 den 2. Platz und wurde ins Jahrbuch 2019 aufgenommen. In diesen Jahrbüchern versammeln sich seit 2001 die jeweils drei monatsbesten Kurzgeschichten. Diese Aufgabe lautete: »Geister«.
© Cover: Schreiblustverlag
»Zweiter Frühling« in: Der Kreis der Zeit
Veröffentlichung in Anthologie, Schreiblust-Verlag, Dortmund, 15.01.2020
Andreas Schröter (Hrsg.): »Schon seit Februar 2001 stellen wir jeden Monat eine Schreibaufgabe. ... Die drei Sieger-Storys eines jeden Monats sind in diesem Buch versammelt.«
***
Die Babysitterin
Das Reihenhaus im Ahornweg strahlte den Charme der 60er Jahre aus. Mit acht Metern wies es eine deutlich größere Fassadenbreite auf als die heutzutage gebauten Reihenhäuser, von denen manche mit viereinhalb auskommen müssen.
Britta verschaffte sich einen ersten Eindruck, ließ ihren Blick an der Fassade entlang gleiten. Im Erdgeschoss wich neben der Küche – sie war sich der Nutzung dieses Vorbaus wegen des Lüftungsgitters in der Wand sicher – die Garage zurück, wodurch sich am Ende der mit sandfarbenen Verbundsteinen gepflasterten Einfahrt eine Art Loggia ergab.
Sie würde hier gleich Zuflucht nehmen vor dem Nieselregen, aber vorher wollte sie ihre Erkundung abschließen.
Der Hauseingang in dieser Loggia war wie auch alle Fenster neu. Weißer Kunststoff, Isolierglas. Über die ganze Hausbreite spannte sich das Wohnzimmer, wie Britta mit einem Blick auf das Nachbarhaus feststellte. Bei ‚ihrem‘ Haus war davor der Balkon auf dem Küchendach zum Wintergarten ausgebaut.
Sie drehte sich um, schaute die Straße hinunter. Auf der Hauptstraße könnte sie in jede der beiden Richtungen schnell verschwinden, wenn sie nach Beendigung ihres Jobs das Haus verlassen würde. Der Blick war nicht atemberaubend, aber der sanft ansteigende Hang hinter der Talsohle vermittelte trotz des schmuddeligen Herbstwetters mit seinem noch anhaltenden Grün ein Gefühl der Geborgenheit.
»Keine Weite, in der man sich verloren vorkommt«, überlegte Britta, »sondern ein Horizont, der einem Orientierung gibt.«
Mit ihren vierzehn Jahren hatte sie sich noch nicht selbst gefunden, ihr Leben noch nicht geplant. Ihr Äußeres erweckte zwar den Anschein einer eher dunklen Zukunft, aber das war nicht endgültig. Sie experimentierte noch.
Britta gab sich einen Ruck und schob ihr Fahrrad die Einfahrt hinauf und lehnte es an die Außenwand der Küche. Sie klingelte.
Das Kleid sah gut an ihr aus. Das knöchellange Schwarz ließ die Hausfrau schlanker erscheinen, als sie wohl war. Der natürliche Graustich, der sich mit der Brauntönung ihres Haares mischte, stand ihr gut, verlieh ihr aber ein übertrieben strenges Aussehen.
»Guten Abend, du bist wohl Britta? Komm rein!«
Britta schenkte ihrer Arbeitgeberin für diesen Abend ein Lächeln und streckte ihr die Hand hin. Sie fühlte sich gleich darauf ins Haus gezogen.
Ihr mit gesenktem Kopf vorgebrachtes »Guten Abend, Frau Häusler« kam zögerlich, klang schüchtern. Doch war es das auch? Britta hatte sich angewöhnt, zurückhaltend zu wirken, wenn sie sich davon einen Vorteil versprach. Sie hatte sich auch jetzt nicht verrechnet, Frau Häusler schien verunsichert. Brittas Lächeln und ihre gespielte Kindlichkeit kontrastierten mit ihrer Aufmachung.
Ihr kurzes, schwarzes Haar war durchzogen von blutroten Strähnen, sie hatte einen Lippenstift im gleichen Rot aufgetragen. Das stahlmatte Augenbrauenpiercing gab ihrem schmalen Gesicht einen düsteren Anschein, der durch die nietenbesetzte Lederjacke über dem Top verstärkt wurde. Ihre Jeans mit den aufgeschnittenen Knien und ihre Segeltuchschuhe setzten das Schwarz bis zum Boden fort. Einzig ihre viereckige Umhängetasche in beiger Leinenoptik stand der Erwartung entgegen, Britta sei zu einer schwarzen Messe unterwegs.
Ein verhaltener Pfiff durch die Zähne ließ sie herumfahren. Der Hausherr war aus der Küche in die kleine Diele getreten, betrachtete das Mädchen von oben bis unten mit unverhohlener Neugierde. Erst, als seine Frau ihn mit zusammengekniffenen