Einer meiner Söhne. Anna Katharine Green. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anna Katharine Green
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754178782
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sie stützen wollte. Aber sie schien auf keinen ihrer Vettern zu achten. Ihre ganze Aufmerksamkeit war auf den Doktor gerichtet; zu Tod geängstigt hingen ihre Blicke an seinen Lippen.

      Ihr Onkel ist das Opfer von Gift geworden! sagte er. Aber wir können annehmen, daß er es geraume Zeit nach dem Abendessen zu sich nahm. Blausäure macht schnelle Arbeit.

      Diese Erklärung hörte sie nicht mehr. Sowie sie das Wort »Gift« vernahm, sank sie ohnmächtig zu Boden.

      Fünftes Kapitel.

      Jetzt hätte ich eigentlich gehen sollen, und ich hätte das auch getan, wenn nicht der immer noch unbestellte Brief in meiner Tasche gewesen wäre. Es schien mir unerlaubt, ja ungesetzlich, zu gehen, ohne dem Coroner Mitteilung zu machen, daß ich ein so wichtiges Papier im Besitz hatte; andererseits wäre es ein Vertrauensbruch gegen den Toten gewesen, hätte ich ohne weiteres gesprochen und den Brief ausgeliefert; denn unverkennbar hatte Herr Gillespie den größten Wert darauf gelegt, daß das Papier nur der Person, für die es bestimmt war, in die Hände käme.

      Ich war aber noch nicht völlig überzeugt, daß es mir unmöglich sein würde, diese Person ausfindig zu machen. Mir war in den letzten Augenblicken ein Gedanke gekommen, der mir vielleicht einen Ausweg aus der Schwierigkeit ermöglichen konnte. Aber bevor ich davon Gebrauch machte, mußte ich unbedingt von den Mitgliedern der Familie Gillespie und ihrem gegenseitigen Verhältnis mir nähere Kenntnis verschaffen. Dies war also für mich nicht bloß wichtig, sondern geradezu wesentlich. Und wo konnte ich hoffen, diese Kenntnis schneller zu erlangen als hier an Ort und Stelle?

      Ich blieb also, und der mit George befreundete junge Arzt mochte ähnliche Gründe haben, die ihn zum Verweilen bestimmten, denn er ließ gleich mir den deutlichen Wink des Coroners unbeachtet. Wir zogen uns in die Nähe der Haustür zurück und kamen sofort ins Gespräch.

      Ein famoses Mädchen! rief er aus. Sie hing sehr an ihrem Onkel. Sie ging ihm bei seiner Korrespondenz an die Hand. Weiber in Ohnmacht fallen zu sehen, ist mir ein Greuel. Ich bin nun schon seit zwei Jahren in der Praxis, aber dieses Gefühl habe ich immer noch nicht überwinden können.

      Mir lag außerordentlich viel daran, über die Beziehungen der jungen Dame zu ihrem Onkel etwas Näheres zu erfahren. Ich überwand daher meine Abneigung gegen den jungen Arzt, dessen trunkenes Benehmen im Anfang mich nicht gerade zu seinen Gunsten eingenommen hatte, und brachte, allerdings etwas ungeschickt, wie ich zugeben muß, das Gespräch auf Herrn Gillespie.

      Der alte Gillespie war also wohl ein sehr viel beschäftigter Mann? bemerkte ich. Wenigstens ließ der mit Papieren überladene Schreibtisch mich darauf schließen. Ueberanstrengung treibt manchen zum Selbstmord.

      Der junge Doktor, der übrigens inzwischen vollständig nüchtern geworden war, sah mich mit einem stechend scharfen Blick an und sagte:

      Ja.

      Aber in dieser Zustimmung lag ein eigentümliches Mißtrauen verborgen.

      Die ohnehin peinliche Lage, worin ich mich in dem fremden Hause befand, wurde durch die kühle Abweisung des jungen Doktors nicht angenehmer. Ich sah mich nach dem Coroner um und bemerkte diesen in ernstem Gespräch mit dem alten Hatson, der zum Umfallen erschöpft zu sein schien. Im selben Augenblick hörte ich zwei Schlüssel rasseln; zwei Türen wurden gleichzeitig geschlossen. So war der Speisesaal gegen Unberufene geschützt; die Schlüssel wurden dem Coroner eingehändigt.

      Fräulein Meredith, die in eins der anstoßenden Zimmer gebracht worden war, erholte sich langsam von ihrer Ohnmacht. Ich konnte dies dem Gesicht und der Haltung Alfreds ansehen, der in der offenen Tür jenes Zimmers stand und die Augen unverwandt auf ihr Gesicht geheftet hielt. Ich war mit dem jungen Doktor ganz allein in der Halle, und da dieser es vorzog, in seinem Schweigen zu verharren, so konnte ich vollkommen deutlich die Erzählung anhören, die der alte Diener dem Coroner vortrug.

      Ich habe, sagte er, wie gewöhnlich bei Tische aufgewartet, Herr, und die Flasche, die Herrn Gillespie vorgesetzt wurde, habe ich mit meiner eigenen Hand entkorkt. Die jungen Herren haben mit dieser Flasche gar nichts zu tun gehabt; sie haben sie nicht mal angerührt, denn keiner von ihnen schien Lust zum Trinken zu haben. Herr George sagte, er hätte Kopfweh, und Herr Leighton – na, der rührt ja überhaupt keinen Portwein oder andere geistige Getränke an. Herr Alfred sagte nichts, er machte nur einfach 'ne abweisende Handbewegung, als ich das Glas präsentierte. So trank also der alte Herr allein. Er schien sich nicht recht glücklich zu fühlen, Herr, und darüber war Fräulein Meredith so aufgeregt. Es tat ihr immer weh, wenn Herr Gillespie mit ihren Vettern nicht zufrieden zu sein schien.

      Und wo ist die Portweinflasche und das Glas, woraus Herr Gillespie bei Tische trank?

      O Herr – Sie müssen mich entschuldigen – aber – aber – ich trank selber den Rest, der noch in der Flasche war. Er sagte oftmals, wenn er gerade gut aufgelegt war: »Die können Sie austrinken, Hatson!« Heute abend sagte er das allerdings nicht, aber ich erkühnte mich, an die anderen Male zu denken, wo er's gesagt hatte. Sie müssen wissen, ich bin seit zwanzig Jahren bei der Familie. Ich war ein junger Mann, als Herr Gillespie mich in seinen Dienst nahm, und in den langen Jahren hatten wir beide uns gegenseitig aneinander gewöhnt. Das Glas, Herr, das habe ich ausgewaschen – schon vor langer Zeit. Bis neun Uhr war er ja auch ganz gesund und munter.

      Das heißt also, bis er das Glas Sherry getrunken hatte?

      Jawohl.

      Das Sie ihm ebenfalls brachten?

      Nein, Herr. Ich nahm die Flasche aus dem Büffetschrank, und Herr Leighton ging damit nach der Hinterstube. Er klingelte nach mir vom Speisezimmer aus, und als ich heraufkam, verlangte er seines Vaters Sherryflasche, und ich gab sie ihm. Dann ging er wieder nach unten.

      Und diese Flasche ist nicht gefunden worden?

      Ich habe sie nicht mehr gesehen, Herr. Vielleicht hat ein anderer sie gesehen. Sie war nicht ganz voll. Herr Gillespie hatte bereits vorher ein paar Gläser daraus getrunken.

      Sie haben mir noch nicht gesagt, woher Sie das Glas hatten, aus welchem Herr Gillespie den Sherry trank.

      Ebenfalls aus dem Büffet. Es steht immer eine Anzahl Gläser unten im Schrank, Herr.

      Holten Sie das Glas da heraus?

      Wahrscheinlich, Herr.

      Nahmen Sie das erste beste, das Ihnen in die Finger kam, und gaben Sie dieses Herrn Leighton?

      Ich glaube, ja.

      War das Zimmer hell oder dunkel? Konnten Sie klar und deutlich sehen, was Sie in die Hand kriegten, oder hatten Sie umherzutasten, um das Glas zu finden?

      Soweit ich mich erinnere, war der Speisesaal nicht gerade allzu hell. Es brannte nur eine einzige Gasflamme, und das Zimmer ist groß. Aber ich sah die Gläser ziemlich deutlich. Ich weiß eben, wohin ich zu greifen habe, Herr!

      Schön. Dann haben Sie wohl bemerkt, ob das von Ihnen herausgenommene Glas rein war oder nicht?

      Die Gläser sind stets rein. Ich setze meine Brille auf, wenn ich sie ausspüle.

      Der alte Diener schien ganz entrüstet zu sein.

      Ja, ja – gewiß, bemerkte der Coroner. Sie müssen also eine Brille tragen?

      Wenn ich die Gläser reinige! Jawohl, Herr!

      Der Coroner stellte keine weiteren Fragen. Wahrscheinlich fürchtete er, diese könnten so aufgefaßt werden, als ob er einen bestimmten Verdacht der Schuld auf Leighton lenken wollte. Uebrigens hätte er auch keine Zeit mehr dazu gehabt, denn in diesem Augenblick erschien Fräulein Meredith auf der Schwelle des Zimmers, in welches man sie getragen hatte. Da stand sie und ließ einen heißen und unruhigen Blick, den Alfred vergebens auf sich zu lenken bemüht war, durch die Halle schweifen.

      Claire! Wo ist Claire? fragte sie. Ich möchte sie zu Bett bringen.

      Hier ist sie, sagte Leighton, aus dem Salon kommend. Das Kind lag fest schlafend an seiner Brust. Nimm sie, Hope, und gib acht, daß du sie nicht aufweckst. Bringe sie lieber so in ihren Kleidern zu Bett, daß sie nicht noch mal erschrickt.

      Hope