Einer meiner Söhne. Anna Katharine Green. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anna Katharine Green
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754178782
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zu verleihen?

      Meine Frage erregte Erstaunen, aber keinen Widerspruch.

      Vater war ein talentvoller Mann, sagte Alfred halb ärgerlich. Ich habe Claire oft über seine Geschichten lachen hören, und sie sagte immer, es wäre, wie wenn er kleine Theaterstücke vor ihr spielte. Aber uns eine solche Frage bei so trauriger Veranlassung zu stellen – das ist eigentümlich, wenn nicht gar unpassend, Herr Cleveland!

      Ich hatte Ihnen vorher gesagt, daß meine Frage Ihnen seltsam erscheinen würde, versetzte ich. Dann wandte ich mich an den Coroner und fuhr fort:

      Herr Doktor Frisbie, ich muß um Ihre Nachsicht bitten. Als ich von Herrn Gillespies kleiner Enkelin gerufen, dieses Haus betrat, fand ich den alten Herrn nicht nur unter großen körperlichen, sondern unter ebenso großen seelischen Schmerzen leidend. Er wünschte – aber dieser Ausdruck ist viel zu schwach – er begehrte in höchster Erregung die Erfüllung eines Wunsches. Doch seine Zunge versagte ihm bereits den Dienst, und er konnte nicht sagen, worin diese Sehnsucht bestand. Endlich, nach mehreren vergeblichen Anstrengungen gelang es ihm, mir begreiflich zu machen, daß ich ihm ein Papier abnehmen sollte, welches er in seiner zusammengekrampften Hand hielt. Ich tat es, und er bedeutete mir, dieses bereits zusammengefaltete Papier in einen von den Briefumschlägen zu stecken, die auf dem Schreibtisch vor uns lagen. Ich sah keinen Grund, ihm seine Wünsche nicht zu erfüllen, und handelte demgemäß nach seinen Anweisungen. Darauf fragte ich ihn nach Namen und Adresse der Person, für die er diese Mitteilung bestimmte. Mittlerweile waren aber seine Kräfte soweit gesunken, daß er den Namen nicht mehr hervorbringen konnte. Er äußerte nur noch in abgerissenen Lauten: »Keinem ... keinem anderen Menschen ... nur ...« Er brachte den Satz nicht mehr zu Ende. Aber, meine Herren, während ich hier wartete, habe ich durch eigenes Nachdenken den Schluß des Satzes herausgefunden, den Ihr Vater zu sprechen beabsichtigte. Es lag ihm offenbar ungeheuer viel daran, daß der Brief nicht in die falschen Hände käme. Das konnte ich dem flehenden Ausdruck seines bereits vom Todeskampf verzerrten Gesichts ansehen. Deshalb habe ich den Brief bei mir behalten, habe kein Wort davon gesagt und ihn selbst seinen leiblichen Söhnen nicht ausgehändigt, obwohl diese an und für sich gewiß ein höheres Anrecht darauf besitzen als ich, der ich ja in diesem Hause ein Fremder bin. Aber seitdem ich Fräulein Meredith gesehen, und vor allem seitdem ich gehört habe, wie Sie sie mit dem Namen Hope Hoffnung. anredeten – seitdem habe ich die feste Ueberzeugung gewonnen, daß die letzte von Herrn Gillespies Hand herrührende schriftliche Mitteilung für sie bestimmt war. Denn als ich in meiner Ratlosigkeit in ihn drang, er möchte mir irgendein Zeichen machen, woraus ich schließen könnte, ob der Brief für seinen Arzt, seinen Anwalt oder für irgendeinen Angehörigen seines Hauses bestimmt wäre, – da richtete er sich empor, und sein Antlitz nahm einen eigentümlichen Ausdruck an, während er es nach oben richtete. Kurz, ich muß jetzt annehmen, daß er damit versuchen wollte, den Namen, den er nicht mehr aussprechen konnte, mimisch darzustellen. Meine Herren, ich habe Ihnen seine Haltung beschrieben. Auf welchen von den Ihnen geläufigen Namen paßt sie am besten?

      Hope! antworteten alle gleichzeitig.

      Das war auch meine Meinung.

      Damit wandte ich mich an den Coroner Frisbie und setzte noch hinzu:

      Ich habe gehört, daß die junge Dame ihres Onkels Vertraute gewesen ist. Wollen Sie mir erlauben, diesen Umschlag an Fräulein Meredith zu übergeben? Ich bin der festen Ueberzeugung, daß ich damit den von Herrn Gillespie erhaltenen letzten Auftrag erfülle.

      Meinen Worten folgte ein Schweigen, das von keiner Bewegung unterbrochen wurde. Dann antwortete der Coroner nur:

      Ja – wenn es in meiner Gegenwart geschieht.

      Ich wandte mich wieder an die jungen Gillespies und sagte:

      Ich bitte Sie, entschuldigen Sie mein Verhalten mit der Lage, worin ich mich befinde, und lassen Sie Fräulein Meredith holen. Ich fühle mich verpflichtet, den Brief in ihre Hände zu legen. Wenn ich damit Ihres Vaters letzten Wunsch falsch auslege, so handle ich wenigstens unter Ihren Augen und aus Beweggründen, die nicht falsch gedeutet werden können. Ich kenne ja Ihre Familie nicht näher und weiß daher niemanden, der ein näheres Anrecht auf den Empfang des Briefes hätte als Fräulein Meredith. Oder wissen Sie jemanden?

      Niemand versuchte mir etwas zu entgegnen.

      Doktor Bennett war bereits hinaufgegangen, um Hope Meredith herbeizuholen.

      Sechstes Kapitel.

      Während wir auf die junge Dame warteten, prüfte ich die drei Gillespies mit kritischerem Blick, als es mir bisher möglich gewesen war. Das Ergebnis war folgendes: George erschien mir als der aufrichtigste, Leighton als der geistig bedeutendste, Alfred als der unruhigste, der in Liebe und Haß unberechenbar war. Sie waren alle aufgeregt und fühlten sich augenblicklich tief gedemütigt; aber wenn sie auch die gleichen Gefühle hatten, so brachte dies sie äußerlich nicht einander näher; im Gegenteil, jeder schien sich mit seinen eigenen Gedanken zu beschäftigen und von den Brüdern fernzuhalten. Eine längere Beobachtung brachte mich zu dem Urteil, daß Leighton wohl ein interessanter Charakter sein möchte, um so interessanter vielleicht, als er nicht leicht zu ergründen wäre. Alfred mußte stark in seiner Liebe, aber auch gefährlich in seinem Haß sein. Und George war offenbar ein herzensguter Junge, wenn man seinen Rechten nicht zu nahe trat und seine Gemütlichkeit nicht mißbrauchte. Von mir schienen sie alle drei kaum Notiz zu nehmen. Ich war für sie einfach ein Bindeglied zwischen ihrem toten Vater und dem Brief, den ich Fräulein Meredith zu übergeben hatte.

      Der Coroner war sichtlich aufgeregt, aber wohl nur in der gespannten Erwartung des Erscheinens der Dame und der Verlesung des Briefes, der wir alle entgegensahen.

      Fräulein Meredith kam früher, als wir erwartet hatten. Als ihre leichten Schritte sich auf der Treppe vernehmen ließen, ging mit uns allen eine Wandlung vor. Zusammengesunkene Gestalten richteten sich auf, gefurchte Stirnen glätteten sich. Nur Leighton blieb sich völlig gleich, und daher kam es wohl, daß ihm ihr erster ängstlicher Blick galt, als ihr bewußt wurde, daß der Coroner sie in einer ganz bestimmten Absicht zu sich entboten hatte.

      Ich begreife nicht, was man heute nacht noch von mir wissen will, sagte sie, und ihre Stimme klang vor Aufregung so gepreßt, daß sie kaum verständlich war. Ich bin kaum imstande zu sprechen. Aber der Doktor sagte, ich müßte herunterkommen. Warum konnte man mich nicht bei Claire oben lassen?

      Das ging nicht an, liebe Hope. Der Herr hier, der, wie du weißt, unserem Vater in seinen letzten Augenblicken beistand, sagt, er habe einen Brief oder eine Mitteilung, die von dem Sterbenden ganz gewiß nur für dich bestimmt worden sei. Hältst du es für wahrscheinlich, daß mein Vater etwas Derartiges für dich hinterlassen haben kann? Siehst du einen Grund, weshalb seine letzten Gedanken nicht seinen Söhnen, sondern dir könnten gegolten haben? Antworte – wir werden uns nicht wundern, wenn du ja sagst.

      Sie hatte versucht, sich aufrecht zu erhalten, ohne den von Leighton ihr angebotenen Arm anzunehmen. Aber sie hatte ihre Kräfte überschätzt. Sie mußte sich an ihn anklammern; dann wandte sie sich mit ängstlichem Gesicht zu uns und sagte in kaum hörbarem Flüsterton:

      Es ist möglich. Ich habe ihm in letzter Zeit viel bei seinen Schreibereien geholfen. Muß ich den Brief hier lesen?

      In ihrer Frage und besonders in deren Betonung lag eine Bitte, beinahe ein Flehen. Aber dies rührte den Coroner nicht, obgleich er offenbar dem Mädchen freundlich gesinnt war. In kurzem, beinahe schroffem Ton antwortete er mit einem befehlenden:

      Ja, Fräulein – hier!

      Sie hatte diese Antwort wohl nicht erwartet. Flehend wanderten ihre Augen von einem zum anderen, bis sie endlich wieder auf des Coroners Gesicht hafteten.

      Ich kann nicht! rief sie aus. Schonen Sie meiner! Ich glaube, ich bin nicht bei voller Besinnung. Alles dreht sich vor meinen Augen – ich kann nicht sehen – erlauben Sie, daß ich den Brief dort im Hellen lese – ich bin ein nervöses, schwaches Mädchen.

      Sie hatte Leighton losgelassen und war abseits getreten. Den verschlossenen Briefumschlag hielt sie in ihrer zitternden Hand, ihre Augen wanderten von George zu Alfred und schienen um Beistand zu flehen, den doch die jungen