Einer meiner Söhne. Anna Katharine Green. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anna Katharine Green
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754178782
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er dem Coroner einen Gegenstand übergab, der wie ein kleiner Stöpsel aussah.

      Haben Sie das in Herrn Gillespies Schreibstube gefunden? fragte der Coroner. Ich glaubte in jenem Zimmer jedes Eckchen und Fleckchen durchsucht zu haben!

      Bennett antwortete im leisesten Flüstertöne; trotzdem verstand ich mit meinem ungewöhnlich scharfen Gehör jedes Wort.

      Er lag im Speisezimmer auf dem Fußboden, sagte er, unter dem Rand des Kaminteppichs. Ein sehr verdächtiger Umstand, meinen Sie nicht auch? Der alte Gillespie kann ihn auf keinen Fall dorthin geworfen haben. Also irgendein anderer – wer? weiß ich nicht – und! ich sage vorläufig auch nichts – mir wär's sehr unangenehm, wenn ich die Polizei im Hause haben müßte.

      Die beiden Herren tauschten einen eigentümlichen Blick miteinander aus, wie ich in dem gegenüberhängenden Spiegel sah. Ich ließ mir aber nicht merken, daß ich es gesehen; ich war mir nur zu wohl bewußt, in welcher delikaten Lage ich mich in diesem Hause befand. In der nächsten Minute gingen wir zusammen hinaus. Im Augenblick, als wir die Schwelle überschritten hatten, hielt der Coroner uns noch einmal zurück und sagte ernst:

      Ich bitte um Schweigen! Wir wollen heute abend die jungen Gillespies nicht mehr aufregen, als leider ohnehin nötig ist.

      Er wurde durch einen lauten Ruf unterbrochen.

      Wo ist Fräulein Meredith? Hat jemand Fräulein Meredith gesehen? Ich kann sie in keinem von den oberen Zimmern finden!

      Und eine andere Stimme rief leidenschaftlich:

      Hope, Hope! Wo bist du, Hope?

      Durch das ganze Haus eilten Männer und Frauen von einem Zimmer zum anderen, und ich hörte nicht nur »Hope Meredith« rufen, sondern auch »Claire«. Dies mußte wohl der Name des kleinen Mädchens sein.

      Ist denn auch das Kind nicht zu finden? fragte ich unruhig den Coroner, der noch wartend unten in der Halle stand.

      Offenbar. Wer ist Fräulein Meredith?

      Der alte Diener, Hatson, nahm das Wort und sagte:

      Sie ist eine Cousine der jungen Herren. Herr Gillespie hielt große Stücke auf sie, und sie lebt hier wie die Tochter des Hauses. Man wird sie wohl in einem der Zimmer oben finden.

      Darin täuschte der Mann sich aber. Allmählich kamen alle Dienstboten wieder nach der Halle herunter, wo sie sich flüsternd und mit ängstlichen Gesichtern in eine Ecke zusammendrängten. Nach ihnen kam George, ärgerlich dreinschauend und kopfschüttelnd, langsam die Treppen herunter. Ihm folgte Leighton, der sich in einer unbeschreiblichen Aufregung befand. Sein Kind, das ihm über alles ging, war verschwunden!

      Sie muß hier sein! rief er wild. Claire! Claire!

      Damit rannte er durch den großen Salon, wo sie doch nicht sein konnte, wie er selber gut genug wußte.

      Alfred war oben geblieben.

      Auf einmal kam mir eine Erinnerung an eine Wahrnehmung, die ich selber gemacht hatte, als ich mit der Kleinen im oberen Stockwerk war, und ich fragte Doktor Bennett:

      Sind die Leute schon oben im vierten Stock gewesen? Als ich in Herrn Alfred Gillespies Zimmer im dritten Stock war, hörte ich auf der Treppe Kleider rauschen. Es war ein hastiges Laufen; ich glaubte damals, die betreffende Person eilte nach unten. Es kann aber auch sein, daß sie treppauf lief!

      Wir wollen doch nachsehen! sagte der Doktor.

      Ich schloß mich ihm ohne Besinnen an. Als wir an Alfreds Tür vorbeikamen, sahen wir ihn in seinem Zimmer stehen. Er war in einem solchen Zustande von Wut, daß er uns gar nicht bemerkte, und riß ein Blatt Papier in Fetzen; es war wieder ein Briefbogen wie jener, den er vorher in den Papierkorb geworfen hatte. Dabei murmelte er Worte vor sich hin, von denen ich nur einige verstand.

      Warum denn schreiben? sagte er. Wenn sie mich liebte, würde sie warten. Sie würde nicht in einem solchen Augenblick fortgehen, wenn er nicht ...

      Doktor Bennett legte den Zeigefinger auf seine Lippen und ging leise an der offenen Tür vorüber. Ich eilte ihm nach, und wir stiegen zusammen die letzte Treppenflucht hinauf.

      Wir befanden uns jetzt in einem Teil des Gebäudes, der auch dem Doktor nicht bekannt war, geschweige denn mir. Hier oben war alles dunkel; nur ein schwacher Lichtstrahl drang durch eine Türspalte; wir sahen nach und fanden in einer der Dachstuben eine niedrig geschraubte Gasflamme brennen. Aber das Zimmer war leer. Auch in einigen anstoßenden Kammern war keine Menschenseele zu finden. Wir gingen wieder auf den Flur und bemerkten beim Schein eines Streichhölzchens, das der Doktor entzündete, zwei verschlossene Türen den bereits durchsuchten Zimmern gegenüber. Die eine führte zu einer gut möblierten Stube, die andere in eine Rumpelkammer, die halb mit Koffern und Kisten angefüllt war.

      Nun, das muß ich sagen! rief Doktor Bennett aus, als sein Streichholz ausging, ehe wir noch die Kammer ordentlich hatten mustern können, diese ganze Geschichte steckt voll von Geheimnissen.

      Pst! sagte ich. Wir wollen horchen! Wir müssen uns hier oben mehr auf unsere Ohren als auf unsere Augen verlassen!

      Mit angehaltenem Atem lauschten wir beide. Und wirklich, wir hörten etwas. Es klang wie das Atmen eines in unserer Nähe versteckten Menschen. Oder konnte es etwas anderes sein? Der Doktor zündete ein neues Streichholz an.

      Diesmal sahen wir etwas, aber wieder erlosch das schwache Flämmchen, ehe wir hatten unterscheiden können, was es war. Wir mußten uns unbedingt Klarheit verschaffen, und dazu gehörte vor allem ordentliches Licht. Ich hatte in einer der anderen Kammern eine Kerze bemerkt; ich eilte hin, entzündete sie an der Gasflamme und kehrte, so schnell ich konnte, nach der Rumpelkammer zurück.

      Dort hatten wir einen seltsam rührenden Anblick.

      An der Wand stand eine weibliche Gestalt. Weit aufgerissene Augen starrten uns an aus einem bleichen Antlitz, das vor Entsetzen über irgend etwas Unerhörtes, Ungeahntes völlig versteinert zu sein schien. Und dies Gesicht war schön, von jener rührenden weiblichen Schönheit, die zu Herzen geht. Rührend war auch der Anblick des im ganzen Hause vergeblich gesuchten kleinen Mädchens – es lag in sanftem Schlummer zu ihren Füßen!

      Wer ist das? fragte ich. Ist es Fräulein Meredith?

      Der Doktor drückte mir die Hand und flüsterte:

      Wir müssen vorsichtig sein. Sie ist in einem Zustande, daß ein plötzliches Erschrecken sie um ihren Verstand bringen kann.

      Das Kind scheint aber keine Angst vor ihr zu haben, murmelte ich.

      Der Doktor war inzwischen auf das junge Mädchen zugeschritten, das noch immer wie gebannt sich gegen die Wand anpreßte, und lächelnd sagte er:

      Warum sind Sie denn in einem so kalten Zimmer? Claire wird sich erkälten. Wollen Sie nicht lieber mit herunterkommen?

      Zusammenfahrend sah sie auf die Kleine hernieder, die noch immer, ohne sich zu rühren, zu ihren Füßen lag, und rief:

      Wie ist sie denn zu mir gekommen? Ich habe sie nicht gerufen.

      Und wie kommen Sie denn selber hier herein? war des lächelnden Doktors Gegenfrage. Mit Ihrem weißen Kleide passen Sie doch nicht in diese Rumpelkammer!

      Sie richtete sich kerzengerade auf; von der Bewegung erwachte Claire und fing an zu weinen.

      Ich hörte, daß Herr Gillespie tot sei, antwortete kaum hörbar das junge Mädchen mit starren, blassen Lippen. Ich hatte ihn lieb, und in meinem Schmerz flüchtete ich in diese Kammer.

      Sie stand noch immer gegen die Wand gepreßt, die Hände hinter ihrem Rücken verbergend. Ich bemerkte, wie ihre Zähne klapperten; das konnte nicht von der Kälte allein herrühren, selbst der plötzliche Tod eines väterlichen Freundes und Wohltäters reichte zur Erklärung einer Aufregung, wie das junge Mädchen sie zeigte, nicht aus. Was mochte sie nur haben?

      Wollen Sie nicht mit hinuntergehen? sagte der Doktor eindringlich, indem er Claire zärtlich wie ein Vater auf seine Arme nahm.

      Niemals! schienen ihre Lippen