»Also hätten sie auch jung bleiben können?«
»Wie es funktioniert, weiß ich nicht, aber ich bin mir sicher, hätte ich ihn darum gebeten, ich hätte jung bleiben können.«
»Und warum wollten sie das nicht«
»Willst du auf so viele wichtige Erfahrung verzichten, die du nur machen kannst, wenn du älter wirst? Willst du immer zehn Jahre alt bleiben?«
»Vielleicht nicht immer zehn Jahre ... ich weiß noch nicht so genau, später vielleicht.«
»Du möchtest also erst mehr Erfahrungen sammeln, um das richtig zu beurteilen?«
»Ja, eigentlich schon ...«, sagte Lilly.
»Das nennt man älter werden«, sagte Rául und erhob sich von seinem Stuhl. »Komm, wir gehen in die Küche und bereiten so langsam mal das Abendessen vor. Älter werden kann man nur, wenn man auch satt genug ist!«
Lilly stand ebenfalls auf, sah noch einmal auf den Tisch und war zufrieden, ein großer Haufen mit Eulen-Münzen links und ein etwas kleinerer Haufen mit Nymphenkopf-Münzen rechts. Alles war sortiert.
IX
Kofferpacken
Am nächsten Tag klingelte es und Rául ging zur Gegensprechanlage, die praktischerweise in jedem Raum von Seldom House installiert war. Es war der Bote mit den Kleidern für Nestor Nigglepot und Lilly.
Das Mädchen war natürlich sofort zur Stelle, um zu begutachten, was sie in der nächsten Zeit wohl anziehen würde. Sie war enttäuscht. Das Gewand, ein Peplos, bestand aus nicht mehr als einer langen Stoffbahn, die ein Stück höher war, als sie selbst. Diese Art Umhang war an den beiden Schmalseiten zusammengenäht, wurde oben ungefähr 50 cm umgeschlagen und an den Schultern mit zwei Klammern, so genannten Fibeln, befestigt, damit er nicht herunterrutschte. Ein Lederriemen als Gürtel raffte das Kleid. Das war’s.
»Ich vermute, du vermisst die Unterwäsche und die Schuhe, nicht wahr?« Rául verkniff sich ein Lachen.
»Du hast es gewusst, oder?«
»Natürlich, wenn es so etwas im achtzehnten Jahrhundert noch nicht gab, dann auch nicht im vierten Jahrhundert vor Christus.«
»Super ...«, sagte Lilly leicht genervt. »Ich geh mich dann mal umziehen.«
Rául brachte die Kleidung für Nestor Nigglepot in dessen Schlafgemach und betätigte die Sprechanlage erneut. Ein Sammelruf erklang im ganzen Haus. »Sir, Ihre neuen Kleider sind eingetroffen. Ich habe sie in ihr Zimmer gebracht.«
»Danke!«, kam es aus dem Gerät heraus, in das der Butler hineingesprochen hatte. Erstaunlicherweise dauerte es auch überhaupt nicht lange und Nestor erschien in kompletter Montur in der Empfangshalle.
»Wieso trägst du Sandalen und ich nicht, Nestor Nigglepot?«, fragte Lilly neidisch und aufgebracht. »Und warum hast du noch dieses Manteltuch darüber und ich nicht? Außerdem ...«, sie fühlte an dem Gewand des Hausherrn, einem Chiton, »... sind deine Kleider aus viel feinerem und weicherem Stoff als meine. Das ist ungerecht!«
Sie drehte sich zu Rául und wollte Unterstützung haben, die sie aber nicht bekam.
»Tja, ich fürchte man konnte schon früher an der Kleidung erkennen, wer das Sagen hatte und wer nicht!« Nestor zog lässig die Schultern hoch.
»Rául! Haben sie das gehört?«
»Ja, Lilly, aber er hat recht.« Und das hatte der Butler ebenfalls. Auch wenn es Lilly noch so wenig schmeckte, sie war die Sklavin und Nestor Nigglepot ihr Herr.
»Beruhig dich, Lilly! Du kennst ihn doch«, flüsterte Rául dem Mädchen zu.
»Ich versuche es«, raunte sie mit zusammengebissenen Zähnen zurück.
»Dann sollten wir jetzt zu Sofia gehen, ich denke sie hat noch ein paar abschließende Informationen für uns«, sagte Nigglepot und machte sich auf. Die beiden folgten ihm.
»Ihr seht schick aus!«, sagte Sofia, sofort nachdem alle den Raum des Zentralcomputers betreten hatten.
»Es kratzt überall!«, meckerte Lilly, die sonst viel ertrug.
»Ich bin mir sicher, chinesische Seide fühlt sich anders an«, sagte Sofia.
»Wie hoch ist die Chance, dass Lilly sich an das Kratzen gewöhnt?«, wollte Nestor wissen.
»Genau 34,7%«, antwortete der Zentralcomputer.
»Du siehst, es könnte schlimmer kommen«, sagte Nestor in seiner überheblichen Art.
»Ich habe die letzten Informationen für euch parat, damit möglichst wenig schief gehen kann.
»Dann lass’ mal hören, Sofia!«
»Du wirst dich als Reisender von der Insel Korfu ausgeben. Lilly Foo wird, wie schon gesagt, als deine Dienerin auftreten. Die Bürger Korfus und aus Syrakus sind Nachfahren von Kolonisten der Stadt Korinth. Du bist also quasi mit allen Syrakusern verwandt, Nestor.«
»Hoffentlich wollen die nicht alle ein Mitbringsel von mir«, witzelte Nigglepot.
»Du, Lilly, wirst vorgeben, Piraten hätten dich im östlichen Meer als Kleinkind deinen Eltern geraubt und dich später in Ägypten an einen Sklavenhändler verkauft. Nestor hat dich vor ein paar Jahren auf dem Sklavenmarkt in Rachotis gekauft, und seit dem bist du seine Dienerin. Ansonsten gibst du vor, nichts weiter über deine Herkunft zu wissen«, fuhr Sofia fort.
»Rachotis? Nie gehört«, sagte Lilly.
»Im Jahre 331 v. Chr. wird Alexander der Große dort die Stadt Alexandria gründen, oder besser gesagt, Rachotis in Alexandria umbenennen«, erläuterte der Zentralcomputer.
»Vergiss das besser wieder!«, sagte Rául, »Den kannte zu eurer Reisezeit noch keiner.«
»Alles klar!« Lilly war verblüfft, an was sie alles zu denken hatte.
»Die Zeitmaschine wird in einer Höhle, nahe der heutigen Stadt Catania, auf Sizilien versteckt, bis dorthin müsst ihr euch unbedingt und möglichst unauffällig durchschlagen. Von dort sind es bis Syrakus mit dem Schiff und günstigen Winden nur ein paar Stunden.«
»Schiff? Da wird mir schlecht! Muss das sein?« Nestor Nigglepot klang plötzlich gar nicht wie ein Draufgänger.
»Auf dem Landweg müsstet ihr mindestens zwei zusätzliche Reisetage einplanen. Überlegt es euch. Vermutlich gibt es dort auch reichlich Banditen.«
»Und was ist mit Piraten?«, wollte Lilly wissen.
»Gab es damals auch, aber der Seeweg ist kurz und sehr nah an der Küste. Weiter draußen könnte das allerdings ein echtes Problem werden.«
»Wir nehmen das Schiff, oder?« Lilly schaute selbstbewusst zu Nestor Nigglepot herüber, der genervt in seinem Sessel hin und her schwang.
»Ja, ja ...«, quälte er es aus sich heraus.
»Gut, weiter! Lilly, du musst aufpassen, dass du Nestor in der Öffentlichkeit nicht widersprichst, das steht Dienern nicht zu. Wenn euch ganz sicher niemand zuhört, könnt ihr frei sprechen, sonst müsst ihr eurer Gesellschaft wirklich hundertprozentig vertrauen können. Ich würde dennoch davon abraten!«
Dann wandte sich die blaue Lichtgestalt wieder dem Hausherrn zu, der den Reinigungsgrad seiner Fingernägel überprüfte.
»Nestor, ich würde dir empfehlen, gleich zu Beginn auf dem Sklavenmarkt in Catania noch mindestens vier weitere Diener zu kaufen. Ein Mann deines Standes hatte zur damaligen Zeit selten weniger als fünf Sklaven.«
»Das ist ja besser als Zuhause!« Wenn er wollte, konnte er auch richtig gemein sein. Alle schauten ihn finster an, sogar Rául.
»Hallo?