Aidan zog die Schultern hoch und stieß schließlich die Luft aus. „Ja, Ihr habt recht.“ Mit einem schiefen Grinsen fügte er hinzu: „Wie eigentlich immer. Doch ich möchte nicht reiten, lasst uns zu Fuß gehen.“
So verließen sie gemeinsam den Herrschaftssitz und erreichten bald den nahen Forst. Es war ein lauer Frühlingsnachmittag, die Sonne schien warm vom Himmel, Vogelgezwitscher und Insektenbrummen erfüllten die Luft.
„So sehr ich auch die Bibliothek mit ihren Wundern schätze, so sehr mag ich auch die Natur.“ Aidan schloss die Augen und atmete den würzigen Waldduft ein.
Durch das lichte Blätterdach stachen immer wieder helle Lichtlanzen und malten verschiedenartige Muster auf den Waldboden. Das Moos dämpfte ihre Schritte, ließ sie wie auf Wolken gehen.
Mit Begeisterung fragte der Junge nach den Namen verschiedener Pflanzen und ließ sich von Valerius Geschichten über die Naturgeister erzählen. Hier und da fanden sich auch die Fährten verschiedener Tiere im weichen Waldboden und der Animagus erklärte seinem Schützling ihre Besonderheiten und ihren Platz im natürlichen Gefüge. Mit leuchtenden Augen hing der Junge an seinen Lippen.
Es raschelte im Unterholz, einen Augenblick später brach ein Keiler daraus hervor. Beim Anblick der Menschen senkte er angriffslustig das Haupt und schnaubte bedrohlich. Valerius hob die Hand und sprach ein paar Worte in einer fremden Sprache. Das Wildschwein legte den Kopf schief, dann trottete es friedlich ins Grün zurück.
„Was habt Ihr dem Eber gesagt?“, wollte Aidan neugierig wissen.
„Nur, dass wir Freunde sind und er nichts zu befürchten hat“, antwortete Valerius augenzwinkernd. „Wenn du den anderen Lebewesen mit Respekt begegnest, werden sie dir auch Achtung entgegenbringen und dich in Ruhe lassen.“
Plötzlich erscholl unweit vor ihnen ein Jagdhorn, Hufgetrappel wurde laut. Der Gelehrte und sein Schützling wirbelten herum, als ein ängstlich quiekendes Wildschwein heranstürmte. Um ein Haar hätte es Aidan umgerannt, wenn er nicht in letzter Sekunde von seinem Lehrmeister zur Seite gezogen worden wäre. Etwas surrte durch die Luft und Aidan schrie auf. Ein Pfeil steckte in Aidans Schulter. Bevor Valerius ihn davon abhalten konnte, zog der Junge sich das Geschoss aus der Wunde. Ein Strom von Blut quoll hervor. Mit bleichem schmerzverzogenem Gesicht taumelte Aidan gegen seinen Lehrmeister, der ihn auffing. Ein kurzer, prüfender Blick ließ den Animagus aufatmen, die Wunde erwies sich als nicht lebensbedrohlich. Rasch legte er eine Hand auf die Verletzung und murmelte ein paar Worte. Unter seiner Hand erstrahlte für einen kurzen Moment ein blaues Leuchten. Als er sie wieder sinken ließ, war die Blutung weitestgehend gestillt. Mit einem Streifen Stoff aus seinem Mantel verband er die Wunde notdürftig.
Ein Reiter der Jagdgesellschaft preschte heran und stoppte sein Pferd kurz vor Valerius und Aidan.
„Ah, sieh an, der alte Hexenmeister mit seinem Lehrling“, tönte es vom Pferderücken herab. Celerion, einer der fürstlichen Ritter und Oberpriester der Kirche des Lichts, stützte sich auf den Knauf seines Sattels und blickte sie aus seinen schwarzen Augen herausfordernd an.
„Haltet Eure Zunge im Zaum, Celerion. Ihr sprecht immer noch mit dem Sohn des Fürsten, Eures Herrn. Den Ihr angeschossen habt!“
„Oh! Verzeiht“, mit spöttisch trauriger Miene neigte er das Haupt. „Das tut mir wirklich außerordentlich leid, ich wollte die Sau treffen. Aber ich bin mir sicher, Meister Valerius, Ihr bekommt das schon wieder hin.“
„Ah, Aidan, Valerius!“ Fürst Geralf ritt mit dem Rest der Jagdgesellschaft aus dem Wald heran und schloss zu Celerion auf. Als er den verbundenen Arm und das schmerzverzerrte Gesicht seines Sohnes bemerkte, fragte er alarmiert: „Was ist passiert?“
Bevor Valerius oder Aidan etwas sagen konnten, kam ihnen der Oberpriester zuvor: „Ich habe auf das Schwein geschossen, das wir schon seit Stunden verfolgen, und da sind wie aus dem Nichts Euer Sohn und sein Lehrmeister aufgetaucht. Mein Pfeil streifte Euren Sohn, mein Herr! Es tut mir sehr leid, es war ein Versehen! Aber wie ihr seht, geht es Eurem Sohn gut. Der gute Valerius hat sich wohl schon um alles gekümmert.“ Er deutete auf Aidan, dessen Gesicht allmählich wieder eine etwas gesündere Farbe annahm.
Der Blick Fürst Geralfs ruhte kurz auf seinem Spross. „Mir scheint, Ihr habt recht. Dann können wir weiterziehen!“
„Vater! Einer deiner Gefolgsleute hat auf uns geschossen, und alles, was dir dazu einfällt, ist, deine dämliche Jagd fortzusetzen?“, schleuderte Aidan Fürst Geralf mit hochrotem Kopf entgegen.
„Ich sagte doch, ich wollte das Schwein…“, begann Celerion.
„Schweigt still, alle beide!“, herrschte der Fürst sie an. „Celerion hat sich entschuldigt und Valerius wird sich schon um den Kratzer kümmern. Sei ein Mann, mein Sohn!“
„Er hätte mich auch töten können!“ Die blauen Augen des Jungen funkelten seinem Vater wütend entgegen. „Bin ich dir so egal?“
Ein traurig gequälter Ausdruck trat auf das Gesicht des Fürsten. „Nein, aber…“
Wütend stieß Aidan einen Schrei aus. „Ich habe schon verstanden!“ Ruckartig wandte er sich von seinem Vater ab und stürmte ins Unterholz. Der Ruf des Fürsten brachte ihn nicht zurück.
Valerius schüttelte nur den Kopf. „Kehrt Ihr zu Eurer Jagd zurück, ich sehe nach dem Jungen.“
Nachdenklich blickte der Fürst seinem Sohn hinterher, nickte aber schließlich und zog mit seinem Gefolge weiter.
„Ich werde mich um Aidan kümmern, so wie ich es immer getan habe“, murmelte Valerius leise zu sich selbst, als er den Reitern hinterher sah.
Der Animagus schlug sich in die Büsche und folgte den umgeknickten Ästen und den niedergetrampelten Gräsern. In seiner Wut und Enttäuschung war Aidan blindlings vorangestürmt, ohne auf seine Umgebung zu achten. Es war nicht das erste Mal, dass Valerius seinem Schützling nach einem Streit mit dessen Erzeuger hinterhereilte. Aidan litt sehr unter der Zurückweisung, unter dem Unvermögen Geralfs, ihm ein guter Vater zu sein, auch wenn der Junge das nicht zugeben wollte. Das führte immer wieder zu Konflikten. Die unbedachten und teils auch gehässigen Bemerkungen der fürstlichen Vasallen taten dann ihr Übriges. Obwohl er manchmal die Contenance verlor, war Aidan sehr erwachsen, sowohl geistig als auch körperlich. Während andere Gleichaltrige Verstecken spielten, verbrachte Aidan viel Zeit mit dem Training seines Körpers und Geistes. Sein Wissensdurst hatte in Valerius einen begeisterten Gegenpart gefunden. Ihm bereitete es große Freude, den Jungen in den verschiedensten Wissenschaften wie Medizin und Philosophie und in den alten Sprachen zu unterrichten. Kaum, dass er laufen konnte, hatte der Gelehrte sein Mündel mitgenommen und ihm die Wunder der Natur gezeigt. Aidan war der Sohn, den er niemals gehabt hatte, und er der Vater, der dem Jungen fehlte.
Valerius folgte dem Wildpfad. Er wusste, dass er ihn nicht würde einholen können, der Junge war ein ausdauernder Läufer. Der Gelehrte machte sich Sorgen um seinen Schützling. Aidan liebte den Wald und kannte sich bestens darin aus. Doch er war verletzt und noch immer in Rage. Aus Erfahrung wusste er, dass sie den Jungen unvorsichtig werden ließ. Valerius konzentrierte sich auf die Augen und Ohren des Waldes, die ihm zeigten, in welche Richtung er sich wenden musste, um Aidan zu finden. Dennoch erreichte er ihn erst, als die Nacht schon hereingebrochen war.
Erleichterung durchströmte ihn, als er den Jungen schlafend auf einer kleinen Lichtung am Fuße einer Eiche, beschienen vom hellen Schein des Vollmondes, fand. Zusammengerollt lag der Junge da, den Kopf auf eine moosbewachsene Wurzel gelegt. Gesicht und Arme wiesen zahlreiche Kratzer auf. Er musste durch dichtes dorniges Unterholz gerannt sein und sich hier vor Erschöpfung niedergelassen haben. Unruhig warf er sich im Schlaf hin und her.
„Ruhig, mein Junge“, flüsterte Valerius und setzte sich zu ihm. Er wusste, dass sein Schützling stark war, doch in diesem Moment wirkte er so verletzlich. Behutsam strich der Animagus Aidan über die zerzausten schwarzen Haare und breitete seinen Mantel über ihn. Mit einem leisen Knurren krallte sich der Junge in den Mantel und schreckte hoch. Verwirrt blickte er sich um und erkannte dann Valerius.