„Da seid Ihr ja endlich! Schnell, Ihr müsst etwas tun.“ Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, Blut klebte daran. „Ihr müsst sie retten!“
Valerius packte seine Tasche fester, nickte kurz und betrat das Zimmer. Es war groß, größer als so manche Wohnstatt eines einfachen Bauern, und von unzähligen Öllampen erleuchtet. Kommoden, ein Schminktisch mit einem Schmuckkästchen und Truhen standen darin. Das gewaltige Himmelbett dominierte diesen Raum jedoch. Davor lagen blutige Tücher auf dem Boden, auch den Bezug des Stuhls neben dem Bett zierten einige rote Flecken. Die Luft war zum Schneiden dick und es roch nach Schweiß und Blut. Der Gelehrte trat ans Bett und stellte seine Tasche ab. Die zurückgeschlagenen Vorhänge gaben den Blick auf das Bett frei. Tief in den Kissen, halb verborgen, erblickte er das Gesicht der jungen Fürstin. Mit Schweiß bedeckt, die Wangen eingefallen, hielt sie die Augen geschlossen. Immer wieder entrang sich ein gequältes Stöhnen ihren Lippen.
„Ich brauche heißes Wasser, frische Tücher, sowie ein Räucherschälchen“, rief Valerius über die Schulter. Er legte ihr eine Hand auf die Stirn, mit der anderen fühlte er nach dem Puls. Zwar nur schwach, dafür aber regelmäßig, spürte er dessen Pochen unter seinen Fingern.
„Sagt, könnt Ihr etwas tun, das sie rettet?“ Der Adlige war hinter Valerius getreten, sein Blick wanderte unentwegt zwischen ihm und seiner Frau hin und her.
„Ich werde mein Bestes tun“, gab dieser zurück und öffnete seine schwere Ledertasche.
Der Bedienstete kehrte mit dem Gewünschten zurück. Auf einen Wink Fürst Geralfs verschwand er wieder. Valerius krempelte die Ärmel seines Gewandes hoch und wusch sich sorgfältig Hände und Arme. Erneut trat er an das Bett und schlug vorsichtig die Bettdecke beiseite. Die Frau trug ein dünnes Nachthemd, welches blutgetränkt war. Vorsichtig strich er mit seinen Händen über den stark gewölbten Bauch und tastete nach dem ungeborenen Kind. Er schloss die Augen und atmete ein paarmal tief ein und aus, um die Konzentration zu stärken. Als er wieder zu dem Fürsten blickte, sprach er mit rauer Stimme: „Ich weiß nicht, ob ich beide vor der ewigen Dunkelheit bewahren kann, mein Fürst. Eure Gemahlin hat schon viel Blut verloren, und auch Euer Sohn wird immer schwächer.“
„Mein Sohn? Ich bekomme einen Erben? Er muss leben, Animagus!“
„Was immer gleich geschieht, mein Fürst, greift nicht ein, das könnte sonst schreckliche Konsequenzen nach sich ziehen. Setzt Euch am besten dorthin.“
Der Fürst ließ sich auf einem Sessel nieder und wedelte auffordernd mit der Hand.
Valerius zog eine Augenbraue hoch, erwiderte jedoch nichts. Der Gelehrte wusch die Fürstin, so gut es ging, und malte rund um das Bett verschiedene Symbole mit seiner mitgebrachten Kreide auf. In dem bereitgestellten Räucherschälchen bereitete er eine Mischung verschiedener Kräuter und Harze zu, die er mit einem kleinen Span entzündete. Würzig duftender Rauch verteilte sich im Zimmer, als der Animagus im Raum auf und ab schritt. Mit geschlossenen Augen inhalierte er die Schwaden und begann leise uralte Formeln zu rezitieren. Wie in Trance wiegte er den Oberkörper vor und zurück. Erst geschah nichts, doch dann glommen die Runen auf. Das Tosen des Sturms nahm zu, der Wind strich klagend um das Gebäude. Und schließlich kamen sie.
Mehrere bläuliche Schemen flogen durch die Butzenscheiben des Fensters in das Gemach. Vage erkannte er die durchscheinenden Formen von Wildtieren. Ein Hirsch mit prächtigem Geweih, ein Wolf und ein mächtiger Adler waren darunter. Der Gelehrte stellte das Schälchen beiseite, hob die Hände und wies auf den Bauch der Fürstin, sein Gesang wurde lauter. Die Tiergeister umschwebten das Bett in immer schneller werdenden Kreisen, bis nur noch ein heller Wirbel zu sehen war, der schließlich in den Bauch der Fürstin eindrang. Sie keuchte und wand sich wie unter Schmerzen. Der Fürst sprang auf, doch eine knappe Geste von Valerius hielt ihn davon ab, näher zu treten. Der Bauch der Frau schien von innen zu glühen, schwache Bewegungen zeigten sich unter der Haut. Die Fürstin schrie auf, ihre Hände krampften sich in das Laken. Das bläuliche Leuchten intensivierte sich, und nach wenigen Augenblicken wurde der Kopf eines Kindes zwischen ihren Beinen sichtbar. Rasch griff sich Valerius eines der bereitgelegten sauberen Tücher und nahm den neuen Erdenbewohner vorsichtig in Empfang. Die kräftigen Schreie des Jungen und das Wimmern der Mutter mischten sich in den Gesang des Animagus. Die Tiergeister verließen den Leib der Fürstin wieder und verharrten einen Augenblick über ihm, abwartend. Valerius, das in das Tuch gewickelte Kind im Arm haltend, beendete die magische Gesangsformel und neigte ehrerbietig den Kopf. Die Tiere taten es ihm nach und verschwanden wieder durch das Fenster. Geschwind legte er dem Fürsten seinen Sohn in den Arm.
„Euer Erbe, mein Fürst.“
Rasch wandte er sich wieder der Gemahlin zu, doch ihre Atemzüge waren nur noch ein schwaches Röcheln. Er fasste ihre Hand und strich ihr über die schweißnasse Wange. „Meine Herrin, Euer Sohn ist wohlauf und stark.“
Ihre geschlossenen Augen zuckten, doch auf ihren Lippen meinte der Gelehrte ein schwaches Lächeln zu erkennen. Es tat ihm im Herzen weh, dass er sie nicht retten konnte, aber er spürte, wie ihre Seele bereits der ewigen Nacht entgegenstrebte. Schließlich entwich der Fürstengemahlin ein letzter seufzender Atemzug und sie lag still.
Fürst Geralf trat neben Valerius und blickte auf seine Frau herab. Als er bemerkte, dass sie nicht mehr atmete, fiel er kraftlos auf die Knie, den Jungen an seine Brust gepresst. „Nein, liebste Katharina, wieso verlässt du mich? Wie soll ich denn meinem Sohn ein guter Vater sein, ohne deinen Sanftmut und Tatkraft an meiner Seite?“ Er richtete seinen Blick auf Valerius, anklagend und Tränen verschleiert. „Ihr habt mir meine Frau genommen, Ihr mit Eurem Hokuspokus!“
„Aber“, warf Valerius ein, „Ihr habt einen gesunden Sohn, der Euch nun braucht. Die Tiergeister haben getan, was sie konnten, gestärkt, wo sie es vermochten. Doch es reichte nicht für beide, Eure Frau war bereits zu schwach.“
Die Hände Geralfs krallten sich in das Tuch, in dem der Säugling lag. „Meister Valerius, sagt, werdet Ihr mir helfen und aus meinem Sohn einen würdigen Erben für das Reich machen?“
Der Gelehrte neigte das Haupt. „Wenn Ihr das wünscht, werde ich Eurem Sohn ein Lehrmeister und Gefährte sein.“
„Lies noch ein bisschen weiter.“ Valerius wies mit der Hand auf den Pergamentbogen, den Aidan in der Hand hielt.
Der Junge kniff die Augen zusammen und begann zu lesen: „Hwæt! Wé Gárdena in géardagum þéodcyninga þrym gefrúnon…“
Schließlich hob sein Lehrmeister die Hand. „Stopp, das genügt. Du machst gute Fortschritte. Dein Vater wird stolz auf dich sein.“
Missmutig verzog Aidan das Gesicht. „Warum verbringt er dann so wenig Zeit mit mir? Warum ist er dann schon wieder auf der Jagd mit seinen Vasallen?“
Valerius fuhr sich durch sein kurzes braunes Haar und zuckte mit den Schultern. „Du erinnerst ihn an seine geliebte Frau, deine Mutter.“
„Wisst Ihr, wie oft ich mir das schon anhören musste?“ Wütend sprang Aidan auf. „Als ob es meine Schuld wäre. Ich habe ja nicht einmal die Chance gehabt, ihr zu begegnen.“
Beruhigend legte der Gelehrte seinem Schützling, der mit seinen fünfzehn Sommern inzwischen fast seine Größe erreicht hatte, die Hand auf den Arm. „Ich weiß. Ich wünschte, es wäre anders gekommen. Ich habe damals getan, was ich konnte.“
„Euch mache ich auch keinen Vorwurf.“ Ein trauriger Ausdruck stahl sich in die blauen Augen des Jungen. „Ich hätte sie nur so gern kennengelernt.“
Valerius drückte Aidan mitfühlend die Schulter. Es bedrückte ihn, wenn er sein Mündel so betrübt sah, er musste ihn auf andere Gedanken bringen. „Was hältst du von einem Ausflug in die