Rerik schnappte nach Luft. Karyans Züge glätteten sich. Seine Finger glitten zurück unter Wasser. Rerik machte einen Satz rückwärts und stolperte über die Krone, sodass er im Gras landete.
„Ein schönes Gefühl, die Realität, nicht wahr? Wer sie so sehr liebt wie ich, wird Magier.“
Rerik schluckte. Seine Kehle schmerzte. Er zwang sich, aufzustehen und wieder am Ufer in die Hocke zu gehen, sodass er in Karyans grelle Augen blicken konnte.
„Du musst mir helfen.“
Karyans Gestalt zuckte mit den Schultern. „Ich bin ein Geist. Die Zeit, in der ich etwas musste, ist vorbei.“
Rerik strich sich verschwitzte Haare aus der Stirn. „Mir wurde mein Königreich geraubt. Von einem Magier.“
Karyan lachte auf. „Oh, dann bin ich also ein Magier. Wie passend.“
„Du weißt wirklich nicht mehr, wer du bist.“ Rerik schüttelte verzweifelt den Kopf. Nach drei Jahren der Suche fand er zurück in den Wald der Seelen, fand die Magie, die er so dringend brauchte, und dann sollte alles nichts genutzt haben? Hatte Karyan seine Fähigkeiten hier drinnen verloren, so wie sein Gedächtnis? „Du bist Karyan. Der große König von Zenbara. Deine Nachkommen haben mein Reich regiert, bevor mein Urgroßvater den Thron bestieg.“
Karyan legte den Kopf schief. „So? Und warum sollte ich jemandem helfen, der meinen Nachkommen die Krone weggenommen hat?“
Rerik befeuchtete sich die Lippen. „So war es nicht. Sie sind gestorben.“
„Wie denn das?“ Er lachte leise. „Nein, du musst es nicht erklären, Junge. Natürlich wartet dein Königreich auf mich. So wie du.“
„Willst du Blut?“, fragte Rerik leise.
„Mindestens“, sagte Karyan.
Auf einmal war es nicht nur Reriks Kehle, die schmerzte. Auch die Übelkeit kehrte in seinen Magen zurück. Das Porträt besaß nicht diese Augen. Hätten sie ihn schon einmal angeblickt, wäre er vielleicht nicht gekommen. Schweiß rann über seine Stirn. Irgendwo die Harfe. Nur schriller. Wie am Anfang. Die Luft dampfte heiß.
„Du wirst mir helfen?“, fragte Rerik.
Wellen liefen über die Oberfläche des Teichs, doch sie berührten Karyans Gesicht nicht. Das grüne Licht schwoll an. Die Funken waren gelb geworden und kreisten langsam um Rerik herum.
„Hier bin ich gestorben“, sagte Karyan. „In diesem Augenblick. Das ist der Augenblick meines Todes. Sonst könntest du nicht mit mir sprechen.“
Rerik schmeckte Salz auf seinen Lippen. „Es ist ...“
„Aber der Tod hat keine Bedeutung. Im Wald der Seelen existiert keine Zeit. Wusstest du das nicht?“, fragte Karyan gelassen. „Vielleicht hast du dein Königreich verloren, weil du zu wenig weißt, mein lieber Junge.“
Rerik schüttelte den Kopf, hörte die körperlose Stimme, sah die rotglühende Gestalt vor seinen Augen und fühlte das Brennen der Flammen. „Nein, er kam mit Magie und ...“
Karyans Gesicht schien ein wenig näher zu rücken. „Erinnerst du dich nicht? Wann war der Zeitpunkt, an dem du dein Königreich verloren hast? Hier gibt es keine Zeit. Du verlierst es jetzt. In diesem Augenblick. Im selben Augenblick, in dem ich sterbe. Im selben Augenblick, in dem du stirbst.“
Die Funken leuchteten schon orangerot und wirbelten immer schneller. Rerik richtete sich auf und machte einen Schritt rückwärts. „Du sagtest, du würdest dich nicht erinnern ...“
„An meinen Tod? Was auch immer ich sagte ... Magie kommt immer erst danach.“ Karyan lächelte schief. Einen Moment lang sahen sie sich in die Augen. Dieses schreckliche Grün. Blutende Adern auf Weiß. Rerik sprang zurück. Karyan erhob sich aus dem Teich.
Kochendes Wasser regnete auf Rerik und fraß sich in seine Haut. Er kniff die Augen zusammen und schlug sich schreiend durch rote Wirbel. Seine Füße stolperten über Wurzeln und durch Gestrüpp. Zweige peitschten gegen seine Beine. Als er den Kopf wandte, sah er hinter sich die durchscheinende Gestalt des Geistes ruhig am Teich stehen. Die grünen Augen bohrten sich in seinen Rücken.
Rerik beschleunigte seine Schritte. Er sprang über einen moosbewachsenen Felsen, schlug Gestrüpp beiseite und arbeitete sich immer weiter weg von dem grün-roten Lichtschein, hinein in die Dunkelheit. Hinter ihm regte sich nichts. Aber vermutlich folgten Geistertritte immer lautlos.
Wozu ein Königreich? Geh nicht in den Wald der Seelen. Wann hat uns Magie jemals etwas Gutes gebracht? Rerik spuckte bitteren Speichel auf den Boden. Legenden sprachen von großen Taten, nicht von guten Menschen. Wie hatte er glauben können, ein wenig Blut würde einer Legende genügen? Wie hatte er glauben können, der Preis für Magie könnte so niedrig sein?
Vor ihm gab der Wald eine Lichtung frei. Rote Funken schwirrten in der Luft. Rerik bremste seinen Lauf ab und taumelte zwischen zwei Baumstämmen hindurch.
Karyans Körper lehnte noch immer an dem Baum. Doch diesmal waren seine Augen offen und folgten Rerik. Das Blut schimmerte noch immer feucht. Der Geist stand mit verschränkten Armen neben ihm. Er trug dasselbe bestickte Gewand. Seine durchscheinende Hand hielt die Krone, die Rerik am Teich zurückgelassen hatte.
„Du weißt doch, hier gibt es keine Zeit. Heute bist du gestorben. Kein Grund wegzulaufen“, sagte Karyans Geist lächelnd.
Seine Stimme ließ ihn erstarren. Rerik krallte die Fingernägel in Baumrinde. Karyans Geist kam langsam auf ihn zu. Als er direkt vor ihm stand, lächelte er entschuldigend und setzte Rerik die Krone auf den Kopf. Das Metall war so glühend heiß, dass er glaubte, es würde seine Stirn schmelzen. Karyans durchscheinende Gestalt verschwamm in einem Tränenschleier. Rerik wollte noch ein letztes Mal schreien, doch aus seiner Kehle drang kein Ton mehr.
Als Karyan in seinen Körper fuhr, hatte Rerik begriffen. Er dachte noch an sein ruhiges Leben mit Deria, das vergeblich auf ihn gewartet hatte.
Karyans todwunder Köper zerfiel im Wald der Seelen zu Staub, während sein Geist sich einen neuen aneignete. Als er den Wald verließ, war sein Schritt sicher, und der Schlag des fremden Herzens in seiner Brust nahm seinen gewohnten Rhythmus an. Als er durch das Tor des Palastes marschierte, glühte sein Körper in roter Magie. Als Rerik an diesem Morgen seine Stimme hörte, starb er im Wald der Seelen. Über dem Teich summte der Ton einer Harfensaite.
Stefan Cernohuby Seine letzte Heldentat
Lori betrachtete den Mond durch die Gitterstäbe. Seine Sichel wirkte schmal, kalt und mitleidslos. Zumindest, wenn er sich nicht gerade hinter den Wolken verbarg. Dennoch war er hoch oben am Himmel. Weit weg von allem, was hier am Boden passierte.
Lori hätte gerne mit ihm getauscht.
Lautes Schnarchen unterbrach sie in ihren Gedanken.
Sie sah sich um. Die anderen schliefen. Lori verstand nicht, wie sie das schafften. Zu schlafen. In dem Wissen, das sie am nächsten Tag sterben würden.
Sie wollte nicht sterben. Das hatte sie nicht verdient. Sie hatte nie jemandem irgendein Leid angetan.
Umso tragischer war, dass ihre Wärter das wussten. Aber weite Landstriche von Kowarien waren vom Krieg verheert, die Ernte war ausgeblieben, und alle Lebensmittel wurden von den Besatzern rationiert. Unter diesem Gesichtspunkt machte es sogar Sinn, sich unnützer Esser zu entledigen. Also ehemaligen Bediensteten, die dem vorigen König untertan gewesen waren. Ebenfalls etwas, was sich Lori niemals ausgesucht hatte.
Etwas klapperte hinter ihr, und sie erschrak. Langsam wandte sie sich um. Vor der Zelle stand Naron. Ein Junge, ein Jahr jünger als sie, der hier als Kerkergehilfe arbeitete.
Leise schlich sie zu ihm, um die anderen nicht zu wecken.
„Ich