„Ja, das müssen wir“, sagte er.
Kornelia Schmid Der Ton einer Harfensaite
„Heute bist du gestorben.“
Zuerst waren die Worte nur ein Wispern und schwirrten wie eine sanfte Melodie in seine Träume. Rerik blinzelte den Schlaf aus den Augen. Die Stimme summte noch in seinen Ohren. Langsam setzte er sich auf. Unter seinem Türschlitz sickerte Glut hervor und waberte auf ihn zu. Ein hoher Ton zitterte in der Luft.
„Vielleicht bist du nicht einmal mehr hier“, sagte die Stimme. Nicht mehr leise. Sie klang direkt vor Rerik. Als stünde der Sprecher im Raum. Das sonderbare Leuchten bäumte sich auf und spie ein Paar stechender Augen aus, bevor sich um sie ein Gesicht aus rotem Licht zusammenballte. Die Hände formten sich als Nächstes, bevor der restliche Körper aus Flammen wuchs. Das Geräusch in seinen Ohren stach..
Rerik strampelte sich aus seiner Bettdecke. Der wirbelnde Umhang des Eindringlings warf Funken auf die Dielen. Würden die fremden Augen ihn verbrennen, wenn er sie zu lange ansah? Kurz war Rerik reglos, starrte nur die Erscheinung an, und schwarze Pupillen starrten zurück. Der Moment zog sich so lang, dass er die Hitze vergaß. Wenn er träumte, so musste gleich alles davonfliegen.
Der Fremde schnippte eine Flamme zu Rerik herüber. Für einen Augenblick flatterte sie wie ein Schmetterling, dann brannte sie auf seiner Hand und fraß sich in seine Haut. Vor Schmerz schrie er auf. Die letzten Reste des Traumes fielen von ihm ab, und heiß durchdrang ihn das Bewusstsein der Wirklichkeit. Es passiert tatsächlich. Blutiger Schein in seinem Zimmer. Diese Hölle brach in der Realität los. Hier in seinem Palast, in seinem Zimmer, in diesem Moment.
Rerik sprang in die Höhe und hechtete zur verschlossenen Tür. Wie war der Kerl hier hereingekommen? Ein Magier. Ein waschechter Magier, und das fünfhundert Jahre nach König Karyans Tod.
Die Wachen vor seinen Gemächern waren verschwunden, als hätten sie sich in Luft aufgelöst. Rerik hastete über den verlassenen Flur. Eine feurige Woge verfolgte ihn und trieb ihm Schweiß auf den Rücken. Seine nackten Füße patschten über den Boden.
Der Magier trug metallbeschlagene Schuhe, die gleichmäßig auf die Fliesen klackten. Von hinten flutete Licht über Rerik hinweg und löschte das Weiß der Säulen und Bodenplatten. Keuchend erreichte er die gewundene Treppe. Als er die Stufen hinunterjagte, schirmten die Wände das Glühen vor ihm ab, doch in der Eingangshalle quoll es wieder hinter ihm auf.
Rerik riskierte einen Blick über die Schulter. Glühender Nebel um eine hochgewachsene Gestalt in kostbaren Gewändern. Der Magier hatte es offenbar nicht eilig. Hoch aufgerichtet stand er im Saal. Ein Paar funkelnder Augen verfolgte Rerik, und Flammen loderten am Boden. Seine Lippen mochten ein Lächeln formen.
Die große Tür war vor ihm. Rerik drückte den Griff und warf sich mit aller Kraft dagegen. Ein schwerer Flügel schwang auf, und Rerik schob sich ins Freie. Sein Herz hämmerte heiß in seiner Brust. Jeder Atemzug brannte.
Die beiden Wachen starrten ihn an, ohne ein Wort zu sagen. Natürlich nicht. Man sprach seinen König nicht an.
„Nehmt ihn fest“, schnappte Rerik und wies hinter seinen Rücken.
„Aber Ihr sagtet doch -“
„Ich sagte?“
Über den Hof donnerte eine Explosion. Eine Hitzewelle schleuderte Rerik nach vorne. Seine Handflächen platzten beim Aufprall auf. Als er sich aufrappelte, stand der Magier nur ein paar Schritte entfernt. Das Rot zog sich allmählich zurück, sodass seine Konturen deutlich genug sichtbar wurden, um menschlich zu wirken. Auf seinem Haupt lag Reriks Krone. Der Magier hob so langsam die Hand, als würde die Zeit zerschmelzen.
Rerik ließ es nicht darauf ankommen. Er rannte, so schnell er konnte, und drehte sich erst um, als sein Palast weit hinter ihm lag.
Um die Türme des Schlosses wand sich roter Dunst, doch ansonsten lag es ruhig da, als wäre nichts geschehen. Keine Schreie gellten aus den Fenstern. Keine Flüchtenden strömten durch die Tore. Rerik rieb sich mit dem Handrücken über die Stirn. Hatte er keine Verbündeten? Seine Garde, seine Berater ...
Das rote Licht sickerte über die Wände, floss in seine Richtung. Rerik schnappte nach Luft und begann wieder zu laufen. Am Horizont leuchtete die Morgensonne unter dunklen Wolkenbahnen und tauchte den Tag in Glut.
Rerik hielt sich an den Verlauf der Straße. Vielleicht keine gute Idee. Mit Pferden mochten sie ihn schnell einholen. Aber wer waren sie überhaupt? Der Magier verfolgte ihn nicht. Warum? Rerik wischte sich Schweiß von der Stirn. Offenbar war er keine Bedrohung für ihn. Rerik stieß Luft zwischen den Zähnen aus. Wer auch immer das Geheimnis der Magie ergründet hatte, hatte es nicht aufgeschrieben. Niemand konnte ihm sagen, wie man ein Magier wurde. Oder was der Preis dafür war. König Karyan hatte der Legende nach sein Blut verkauft.
Gegen Mittag spannte sich ein grauer Himmel über die Landschaft und ließ keine Spur von Rot mehr auf seinen Wolken zu. Die Straße war belebter geworden. Händler und Kuriere taten ihre Arbeit. Regentropfen klatschten auf den Boden. Rerik schlang die Arme um die Brust und senkte den Blick. Kaum jemand beachtete ihn, während er zitternd dem matschigen Weg folgte. Die Wagen rollten gleichgültig an ihm vorbei.
Rerik biss die Zähne zusammen. Er trug eine dünne Hose, keine Schuhe, nicht einmal ein Hemd. Niemand würde ihn für einen König halten – und wenn sie es täten, mochte das sein Leben kosten. Rerik zwang sich Schritt für Schritt durch den kalten Schlamm. Die Regentropfen stachen wie Eiskristalle in seine Haut. Die brennende Berührung der roten Flamme war erloschen. Seine aufgeschürften Handflächen hingegen schmerzten noch immer.
Wolken verhüllten die Nachmittagssonne. Der Regen war abgeklungen, hatte jedoch schweren Moderduft in der Luft zurückgelassen. Reriks Haut fühlte sich wie gefroren an. Seine Muskeln waren verhärtet und schmerzten bei jeder Bewegung. Ein König fror nicht. Ein König ging nicht zu Fuß.
Grüne Hügel säumten die schmaler werdende Straße. Im Gras schimmerten Tropfen. Rerik sackte auf einen Stein am Wegrand und schloss eine Weile die Augen. Sein Herz pochte so schwach, dass ihn nur das laute Knurren seines Magens und seine wunde Kehle daran erinnerten, dass er noch lebendig war.
„Ich bin der König von Zenbara“, flüsterte Rerik. Dem König musste es doch möglich sein, irgendwo Kleidung und eine Bleibe zu finden.
Und dann? Wer würde ihm seine Krone zurückgeben können, solange sie die Stirn eines Magiers zierte? Vielleicht war der Magier ohnehin ein besserer König als er.
Rerik schüttelte den Kopf. Es spielte keine Rolle. Eine Tränenspur benetzte seine Wange. Er blinzelte gegen das Brennen in seinen Augen an. Hinter den Bäumen glomm ein blaues Licht. Nebelschwaden wirbelten heraus und trugen unruhigen Schein mit sich. Der Wind pfiff hohe Töne wie von einem Lied. Reriks verschwimmender Blick klärte sich. Sein Herz pochte schneller. Eine Melodie aus dem zarten Schwirren einer Harfensaite. Er hatte so etwas schon einmal gehört.
Langsam stemmte er sich in die Höhe. Der Wald schloss in einem gleichmäßigen Bogen an den Hügel an, als hätte jemand mit einem Zirkel einen Kreis gezogen. Wie war dieses Licht nur möglich? Rerik lauschte auf die Musik der Luft und machte ein paar Schritte auf die Bäume zu. Je näher er kam, umso lauter wurden die Klänge. Das Leuchten pulsierte stärker, färbte sich zu einem satten Türkis. Rerik streckte die Hände aus. Seine Finger zitterten. Inmitten des Dickichts lag Magie. Dort konnte er sie finden. Als Magier konnte er sein Königreich zurückerlangen. Er würde mit blauem Feuer gegen den Thronräuber kämpfen. So hatte der große König Karyan die Macht erlangt. Der letzte Magier und mächtigste Herrscher von Zenbara. Um seine Person rankten sich mehr Legenden, als in ein Buch passten.
Rerik schnaubte. Er war sich ziemlich sicher, dass in fünfhundert Jahren niemand mehr über ihn sprechen würde. Er war schließlich nur ein bedeutungsloser Monarch, jung gekrönt und ebenso jung gestürzt.
Magie also. Vielleicht musste auch er