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Der Oberste Seher ließ unwillig die Arme sinken und schenkte dem Jungen zu seinen Füßen einen vernichtenden Blick. Doch irgendetwas flüsterte ihm zu sein, dass dies eine wichtige Unterbrechung war. Er zwang sich zu einem verständnisvollen Lächeln.
„Was ist so eilig, junger Torek, dass du die Sichtung aufhältst?“ Seine Stimme klang krächzend und ließ den Jungen vor ihm erschaudern.
„Ich … hat-te Vi-sionen …“ Der Junge stotterte vor Aufregung und blickte voller Furcht auf den Obersten Seher, der vor ihm aufragte und auf ihn hinabsah.
Bairani nickte langsam und hob erstaunt eine Augenbraue. Der Onkel des Jungen war Seher gewesen und vor einigen Tagen verstorben. Die Fähigkeit des Sehens wurde immer in der Familie nach dem Tode eines Sehers weitervererbt. Er hatte sich schon gefragt, wer der Erbe sein würde und wann sich die Gabe bei ihm zeigte. Doch normalerweise kamen Visionen erst langsam und wurden erst mit der Zeit ausgeprägter. Zu Anfang waren es eigentlich nur einzelne, undeutliche Bilder, niemals eine ganze Vision, geschweige denn mehrere. Er beugte sich neugierig vor und hielt Torek seine knöchernen Hände entgegen, um ihm aufzuhelfen. Dann machte er eine einladende Bewegung in die Runde der Seher.
„Sei willkommen zur Sichtungszeremonie, Seher Torek, und offenbare uns deine Visionen.“
„Ich weiß nicht, wie …“ Torek sah sich unsicher mit weit aufgerissen Augen um und stellte sich zwischen Tamaka und Durvin, die beide seinen Onkel gut gekannt hatten und ihn bereitwillig in ihre Mitte nahmen.
„Wir leiten dich.“ Bairani sah ihn auf eine hypnotisierende Art an. Torek zog den Kopf ein wenig zwischen die mageren Schultern.
Erneut breitete Bairani mit einer demonstrativ langsamen Bewegung die Arme aus und ließ sie nach oben wandern. Sein Blick schien nach innen gerichtet, während er unablässig die Worte der Alten Sprache murmelte.
Ein Seher nach dem anderen folgte seinem Beispiel, bis sich ihr Kreis schloss. Ihr Murmeln vereinigte sich zu einem Chor, der immer mehr anschwoll, eine Art Netz webte und sich bis zu der weit über ihnen liegenden Höhlendecke ausbreitete. Das Murmeln brach abrupt ab, als Bairani seine Arme sinken ließ und gemächlich den Kreis der Männer abschritt. Es herrschte eine vollkommene Stille, die durchdrungen wurde von der fühlbaren Präsenz der Visionen, die die Seher seit der letzten Zeremonie gehabt hatten und jetzt unterschwellig brodelnd unter der Oberfläche darauf warteten, endlich ausbrechen und sich zeigen zu können. Bairani blieb vor Torek stehen, dessen Visionen völlig durcheinander waren und nur mühsam von ihm zurückgehalten werden konnten. Der Oberste Seher wollte gerade dem Jungen helfen, die Bilder geordnet zu entlassen, als ihn etwas Unbestimmtes zu Tamaka blicken ließ. Misstrauisch verengte er seine Augen, als er deutlich spürte, dass Tamaka vollkommen gelassen dastand und nur wenige Visionen aufzubewahren schien. In diesem Augenblick wünschte sich Bairani inbrünstig, ein Mittel zu besitzen, um jeden Seher zur Offenbarung sämtlicher Visionen zwingen zu können. Er war sich sicher wie nie zuvor, dass Tamaka etwas verschwieg. Bairani knurrte innerlich und zwang sich wieder dazu, seine Aufmerksamkeit auf Torek zu richten, der ihn schüchtern ansah. In einer fürsorglichen Geste legte er eine Hand zwischen die Augen des Jungen, dann schloss er selbst seine Augen. Bedächtig löste er sich von Torek, der ruhiger geworden war, und ging zurück in die Mitte des Kreises. Vor seinen geschlossenen Augen zeichneten sich die Seher als Schemen ab, von deren Schultern sich nun kaum wahrnehmbare Schatten lösten und über die Gruppe schwebten. Dort begannen sie sich zu verdichten und formierten sich zu einer Kuppel aus unzähligen Bildern, die sich über die Seher legte und sie vollkommen einschloss.
Bairani drehte sich einmal um seine eigene Achse, um sich einen Überblick über die Visionen zu verschaffen. Er entdeckte drei neue Kinder, die als Kapitäne auserwählt waren, doch schenkte er ihnen momentan keine Beachtung. Sein Blick wanderte die Reihen entlang, vorbei an dem Tod einiger Stammesmitglieder, Geburten, Streitigkeiten; alles Dinge, die für ihn nicht weiter von Belang waren. Die alltäglichen Dinge des Volkes interessierten ihn schon lange nicht mehr. Er strebte mit seiner ganzen Seele danach, die Macht der Waidami auszubauen und die Spanier aus der karibischen See zurückzudrängen. Mit Genugtuung entdeckte er den Bau von weiteren Waidami-Schiffen, als sich überraschend die noch etwas unklaren Bilder von Torek in den Vordergrund drängten. Die Visionen schwangen in ihrer Position unruhig auf und ab und waren kaum zu fassen. Bairani ging kurzerhand zu dem Jungen und legte ihm wieder die Hand zwischen die Augen. Sofort beruhigte sich das Bild. Bairani hielt unwillkürlich den Atem an. Vor ihm zeichnete sich das deutliche Bild von einer leblosen Gestalt ab, die Bairani als Kyle, den Schiffshalter, erkannte, der auf der Monsoon Treasure seinen Dienst versah. Das Bild verschwamm, und ein neues Bild formierte sich. Die Gestalt von Captain Jess Morgan erschien in überklarer Deutlichkeit, der vor seiner Crew eine Rede gegen die Waidami führte, der die Männer mit lautem Jubel zustimmten. Der Jubel schien die ganze Höhle auszufüllen und wurde von den Wänden zurückgeworfen, bis Bairani mit einer unwirschen Bewegung die Vision wegschob. Doch sofort reihte sich ein weiteres Bild ein. Bairani konnte nicht glauben, dass ein frischer Erbe in der Lage war, solche klaren Visionen in dieser Anzahl zu empfangen. Das neue Bild, das sich ihnen offenbarte, zeigte, wie die Monsoon Treasure andere Waidami-Schiffe in einer Schlacht versenkte, und ging dann fließend in das Gesicht eines rothaarigen Mädchens über, dessen funkelnde Augen für einen Moment die ganze Höhle in smaragdgrünes Licht tauchten. Bairani lenkte seinen Blick wie eine Schlange, die gerade erst eine Beute entdeckt hatte, auf Tamaka, der bleich neben Torek stand und die Bilder verfolgte. Als er spürte, dass Bairani ihn beobachtete, trafen sich ihre Blicke. Tamaka senkte entsetzt den Kopf. Der Oberste Seher sah mit Genugtuung, dass dem Seher bewusst war, dass er seine Tochter erkannt hatte. Sein Gesicht verzog sich zu einem hässlichen Lächeln. Captain Jess Morgan also! Endlich wusste er, wer der Gesuchte war.
„Schluss! Das ist genug für heute. Wir wollen unseren jungen Seher nicht überanstrengen. Ihr könnt gehen.“ Mit einer herrischen Geste beendete Bairani abrupt die Sichtung und scheuchte die Seher aus der Höhle. Er hatte das, was er brauchte. Mit berechnenden Blicken verfolgte er, wie die Seher die Höhle verließen. Als Tamaka an ihm vorbei wollte, hielt Bairani ihn mit einem boshaften Lächeln zurück.
„Wie wir alle gesehen haben, benötigt die Monsoon Treasure dringend einen neuen Schiffshalter. Finde heraus, wo Jess Morgan sich aufhält und schicke deine Tochter zu ihm. Jedoch möchte ich, dass sie sich nicht als Schiffshalter zu erkennen gibt, sondern lediglich als Navigator an Bord geht. Sie soll ihn beobachten, soll herausfinden, ob er uns weiterhin treu ergeben ist, und ich möchte regelmäßig Positionsangaben haben.“ Er kicherte leise, als er sah, wie der Mann ergeben die Augen schloss. Die Vision hatte interessante Figuren ins Spiel gebracht, und Bairani war sich sicher, dass er Jess Morgan wieder auf seine Seite würde ziehen können.
„Wie du befiehlst, Bairani!“ Tamaka verbeugte sich steif und wandte sich dann ab, um den anderen Sehern eilig zu folgen.
Abschiede
Tamaka beeilte sich, den anderen Sehern aus der Höhle zu folgen. Er musste sofort Lanea aufsuchen und ihr mitteilen, dass sie auf die Monsoon Treasure gehen würde.
Der