Jess betrachtete nachdenklich seinen Freund, dann nickte er.
„Ich habe nicht länger vor, für die Waidami zu segeln“, sagte er bestimmt und richtete seinen Blick offen auf Cale, der die Luft zischend ausstieß. Für einen Moment rang sein Freund um Fassung, doch dann nickte er zögernd.
„Ich verstehe – nein, eigentlich verstehe ich nicht.“ Seine Augen wurden schmal, und er trat einen Schritt zurück. „Woher kommt der Sinneswandel? Seit fünfzehn Jahren kapern wir für die Waidami. Nie hast du auch nur mit einem Wort verlauten lassen, dass dir das nicht gefällt. Und dann, von einem Moment auf den anderen, lösen wir uns? Wieso? Und was das Wichtigste in meinen Augen ist: Glaubst du, sie werden das so einfach akzeptieren?“ Mit jedem Wort war die Stimmung von Cale aufgebrachter geworden, und der sonst so ruhige Erste Maat stand Jess ungläubig gegenüber.
Jess ließ seinen Freund geduldig ausreden, doch eine Falte der Missbilligung grub sich zwischen seine Augen. Für einen Moment erwog er, das Gespräch in seiner Kajüte fortzuführen, als er bemerkte, dass einige Männer versuchten, unbemerkt dem Gespräch zuzuhören. Diese Fragen würden alle Männer beschäftigen, es hatte keinen Sinn, Platz für Gerüchte zu schaffen. Seine Männer folgten ihm bedingungslos, also hatten sie auch ein Recht, von seinen Beweggründen zu erfahren.
„Es handelt sich nicht um einen plötzlichen Sinneswandel. Ich warte bereits seit Jahren auf den passenden Augenblick, mich aus der Abhängigkeit der Waidami zu lösen. Vor zwei Wochen ist der alte Kyle gestorben. Er war unser Navigator und Freund, aber er war in allererster Linie ein Schiffshalter, der die Pflicht hatte, die Positionen unserer versenkten Beuteschiffe an sein Volk zu übermitteln. Er war fanatisch, was diese Pflicht anging und hätte niemals Abstand davon genommen. Seitdem er tot ist, scheint mir der Augenblick gekommen, dass wir auf eigene Rechnung segeln können. Ich bin nicht länger gewillt, nur ein Handlanger zu sein, und ich denke, dass ihr mir da zustimmen werdet.“ Jess hatte seine Stimme erhoben und sah Cale fest in die Augen, bevor er sich der inzwischen auf dem Hauptdeck versammelten Crew zuwandte.
„Wollt ihr wirklich für immer den größten Teil der Schätze an jemand anderen verschenken? An jemanden, der nichts dafür tut, außer uns zu kontrollieren?“ Jess ließ seinen Blick über die Gesichter seiner Männer wandern. Der ein oder andere sah ihn beunruhigt an, doch der größte Teil schüttelte ablehnend mit den Köpfen.
„Wir sind Piraten! Und Piraten segeln dorthin, wo es ihnen gefällt, und nehmen sich, was ihnen gefällt. Wollt ihr euch das für den Rest eures Lebens von einem Volk vorschreiben lassen, mit denen ihr nichts, aber auch gar nichts gemein habt? Wer von euch ist nur ein kleiner Diener und hat Angst, seine eigenen Wege zu gehen? Jeder, der weiterhin für die Waidami segeln möchte, wird von mir im nächsten Hafen abgesetzt. Jeder, der den Mut hat, mit mir zu segeln, wird sicherlich den Zorn dieses Volkes heraufbeschwören, und ich kann euch nicht mehr versprechen, als in Freiheit zu sterben!“ Jess neigte seinen Kopf auf die Seite und sah Cale herausfordernd an: „Also, was sagst du?“
Cales Gesicht wirkte verschlossen, denn er wusste genau, dass die Blicke sämtlicher Männer auf ihm ruhten. Seine Entscheidung würde maßgeblich zu ihren Entscheidungen beitragen, und das wusste auch Jess Morgan, der ihn mit überlegener Miene gelassen beobachtete.
„Denke darüber nach, Cale. Bisher haben wir stets den größten Teil der Beute abgetreten und mussten in regelmäßigen Abständen ein Dorf der Waidami aufsuchen, um von dort Befehle für weitere Überfälle entgegen zu nehmen. Wenn wir uns jetzt dazu entscheiden, weiterhin den Waidami treu zu bleiben, müssen wir uns innerhalb der nächsten Wochen dort wieder melden und werden einen neuen Schiffshalter an Bord nehmen müssen. Alles würde von vorne beginnen, unsere Positionen würden laufend übermittelt, sodass die Waidami immer wissen, wo wir uns gerade aufhalten. Nichts würde unentdeckt bleiben. Jetzt ist die Gelegenheit, ihnen auszuweichen und vielleicht sogar vollständig aus dem Netz zu entwischen. In diesem Moment haben sie nicht die geringste Ahnung, wo wir uns gerade befinden.“
Cale atmete tief ein und verdrehte die Augen.
„Aye, Sir! Bieten wir den Waidami die Stirn!“
Jess lächelte, und der Jubel der Männer drang in den Nebel, wo er sich scheinbar unbemerkt in den dunstigen Schleiern verlor.
*
Langsam und würdevoll schritten die Seher in einer langen Reihe hintereinander durch den Eingang zur Sichtungshöhle. Ihre langen Umhänge schwangen bei jeder Bewegung schwerfällig mit und hoben sich durch die lavagraue Färbung kaum von der düsteren Atmosphäre in der Höhle ab. Nach einer vorbestimmten Reihenfolge ordneten sie sich in einem weiten Kreis an, der die ganze Höhle ausfüllte, und verharrten stumm in spiritueller Ehrfurcht. Jeder Einzelne schloss die Augen und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Stelle in seinem Inneren, in denen sie fest verschlossen ihre Visionen aufbewahrten. Sie öffneten den Zugang und drangen in ihre Erinnerungen, sortierten die Bilder und bereiteten sich auf die große Zeremonie der Sichtung vor, die zu jedem Neumond stattfand.
Die herrschende Stille wurde von den festen Schritten einer hochgewachsenen, hageren Gestalt unterbrochen, die die Höhle in dem Augenblick betrat, in dem alle Seher mit ihren Vorbereitungen abgeschlossen hatten.
Bairani, der Oberste Seher, trat in den Kreis und ließ seine kalten Augen über die Männer wandern. Wie immer war er in diesem Moment von Gier erfüllt, die ihn zunehmend beherrschte. Die Gier nach den Visionen seiner Seher fraß ihn immer mehr auf. Zu Beginn seiner Zeit als Oberster Seher hatte er von seinem Vorgänger Visionen erhalten, die seit Generationen weitergegeben wurden. Sie zeigten schemenhaft einen Waidami-Piraten, der ihnen entweder den Weg zur absoluten Macht in der karibischen See ebnen oder aber für das Ende der Seher verantwortlich sein würde. Wie genau das vonstattengehen würde, zeigte die Vision nur bruchstückhaft, und nur die beiden möglichen Ergebnisse waren deutlich. Jede Vision der Zukunft offenbarte nur Wege, die beschritten werden konnten, und jeder Seher wusste, dass es immer Möglichkeiten gab, andere Wege einzuschlagen. Für Bairani bedeutete das, dass er diesen Piraten finden musste. Denn in dem Punkt war die Vision eindeutig gewesen: Der Pirat würde zu Bairanis Zeit als Oberster Seher in den Reihen ihrer Piraten auftauchen. Er musste ihn finden, bevor er sich gegen die Waidami stellen konnte, und derart beeinflussen, dass sie und damit er selbst an Macht in der karibischen See gewannen und die verhassten Spanier zurückdrängten. Bairani betrachtete die Gesichter der Männer, die seltsam entrückt schienen, genauer. Sein Blick blieb an zwei der älteren Seher hängen, die beieinanderstanden. Ronam war der älteste von ihnen und hatte einen widerspenstigen Charakter. Auf dem Weg zur Sichtungszeremonie hatte der alte Mann tatsächlich den Mut gehabt, ihn aufzuhalten.
„Besinne dich auf den Ursprung der Seher und höre endlich damit auf, die Karibik mit Piratenschiffen heimzusuchen!“, hatte er gefordert. Und dies war nicht das erste Mal gewesen. Bairani widerstand dem Drang, die Fäuste zu ballen, und richtete seine Aufmerksamkeit unauffällig auf Tamaka. Der Mann hatte eine ungewöhnliche Gabe die Zukunft zu sehen, vielleicht würde er den Piraten entlarven. Doch manchmal zweifelte Bairani an Tamakas Loyalität und war sich nicht sicher, ob er auch alle Visionen offenbarte, die er empfing. Die Zeremonie der Sichtung war eingeführt worden, um alle Visionen dem Obersten Seher zugänglich zu machen. Nicht alle erhielten dieselben Bilder, manche konnten sogar nur Dinge sehen, die in der Vergangenheit geschahen oder in der Gegenwart.
Mit jeder Sichtungszeremonie hoffte er, endlich die Vision zu finden, die ihm den Piraten deutlich zeigte, doch bisher war niemals eine Spur von ihm aufgetaucht. Selbst unklare Visionen, wie sie an ihn weitergereicht worden waren, waren nicht mehr erschienen. Bairani atmete tief ein und breitete seine Arme aus, um mit der Zeremonie zu beginnen.
*
Torek rannte, so schnell er konnte durch die langen Gänge zur Sichtungshöhle. Der Weg erschien ihm unendlich weit, und die Worte seiner Mutter hallten in ihm nach: „Lauf so schnell du kannst, Torek. Du musst in die Sichtungshöhle bevor die Zeremonie vorbei ist.“
Eigentlich verstand er nicht wirklich die Eile, aber sie hatte fast panisch geklungen. Er hatte kaum Zeit gehabt, sich anzuziehen, so schnell hatte sie ihn aus der Hütte gedrängt. Seine Beine fühlten sich bereits