Erstaunt fuhr sie sich über die Augen. Der Junge war ungefähr in ihrem Alter und offensichtlich kein Angehöriger ihres Volkes. Seine Haut war zwar gebräunt, doch viel heller, als sie es jemals zuvor gesehen hatte. Geschmeidig ließ er sich mit überkreuzten Beinen neben ihren Vater sinken, ohne seine großen Augen von ihm zu nehmen, die voller Interesse waren. Beide vertieften sich in ein intensives Gespräch, das sie zu ihrem Leidwesen nicht verstand. Angestrengt überlegte sie, wie sie sich unbemerkt dem Sitzplatz der beiden nähern konnte. Eine stetige Brise strich über den vor Hitze schwirrenden Sand, verfing sich in den Palmwedeln und Blättern der anderen Gewächse, sodass ein fortlaufendes Rascheln herrschte. Das Mädchen grinste breit. Diesen Umstand würde sie für sich nutzen. Sie konzentrierte sich auf das Rascheln der Blätter in ihrer unmittelbaren Umgebung und folgte dessen natürlichem Rhythmus, um sich so unauffällig wie möglich darin fortzubewegen. Es dauerte Ewigkeiten, aber sie arbeitete sich geduldig weiter. Als sie endlich auf gleicher Höhe angelangt war, ließ sie sich vorsichtig auf den Boden nieder und schob einen dornenbesetzten Zweig beiseite. Zufrieden sah sie sich in ihrem kleinen Beobachtungsposten um und richtete dann ihren Blick durch ein kleines Loch im Blattwerk vor sich. Die Stimme ihres Vaters erklang nun laut und deutlich.
„… werde ich dir erzählen, warum sie uns die Fähigkeit schenkte, aus den Schiffwracks einzigartige, neue Schiffe zu bauen, die mit ihren Kapitänen eine unvergleichliche Bindung eingehen.“
Er erzählte diesem Jungen also gerade eine der alten Geschichten ihres Volkes. Früher hatte er ihr diese Geschichten immer erzählt, und sie hatte sie geliebt. Mit seiner wohlklingenden Stimme hatte er sie immer wieder in seinen Bann geschlagen und die Bilder der Sagenwelt der Waidami vor ihrem inneren Auge lebendig werden lassen.
Das Mädchen richtete nur kurz ihr Augenmerk auf ihren Vater, dann wurde sie von dem Jungen angezogen, wie ein Moskito von der blutgefüllten Wärme eines Körpers. Seine eisblauen Augen waren gebannt auf sein Gegenüber gerichtet. Jedes Wort schien er in sich aufzusaugen, als wollte er nicht zulassen, dass er sie jemals vergessen könnte.
Die Zeit stand still, während sie ihn betrachtete. Während sie den Wind verfolgte, der auf seinem Weg über den Strand in den weizenblonden Haaren hängenblieb, als könnte er sich von der schulterlangen Pracht nicht trennen. Wie die Sonne den gebräunten Körper liebkoste und sich die fein geschwungenen Lippen bewegten, als er ihrem Vater eine Frage stellte.
Das Mädchen rieb sich die Augen und schüttelte den Kopf, um sich besser auf das Gespräch konzentrieren zu können. Bereits nach wenigen Worten hatte sie die Geschichte der Göttin Thethepel erkannt. Es war die Geschichte der Göttin des Meeres und des Feuers, die der Sage nach die Insel ihres Volkes erschaffen hatte, indem sie diese mit der Hilfe eines Vulkans aus dem Meer erhob. Mit einem glücklichen Lächeln auf dem Gesicht versank sie in dem Anblick des Jungen und lauschte, ebenso wie dieser, fasziniert den Worten ihres Vaters.
*
Die Wochen zogen dahin, in denen das Mädchen tagtäglich ihrem Vater in den Dschungel folgte, um den geheimnisvollen Jungen zu beobachten. In ihrem Versteck lauschte sie den Erzählungen ihres Vaters und wie er dem Jungen die alte Sprache ihres Volkes lehrte. Zu ihrem Erstaunen berichtete er auch offen über die derzeitige Lebensweise der Waidami und wie sehr er den Missbrauch ihrer Fähigkeiten missbilligte. Ihr Vater zeichnete ein schonungsloses Bild von dem rücksichtslosen Einsatz der Piraten durch die Waidami, als wollte er den Jungen auf einen bestimmten Weg lenken unmerklich
Das Mädchen ließ den Jungen dabei so gut wie nie aus den Augen. Sie war inzwischen so mit seinen Bewegungen vertraut, dass sie an diesem Morgen bis ins Innerste erschrak, als sie ihn sah.
Sie hatte sich diesmal noch vor ihrem Vater davongestohlen, da sie nicht länger abwarten konnte, den Jungen wiederzusehen. Endlich würde sie ihn einmal ganz alleine betrachten können, ohne dass die Worte ihres Vaters sie ablenken konnten. Ein Hochgefühl trieb sie durch den Dschungel. Diesmal legte sie den Weg wesentlich schneller zurück, da sie erst kurz vor dem Strand vorsichtig sein musste. Ungeduldig suchte sie sich einen günstigen Platz, von dem sie eine gute Sicht haben würde. Doch der Anblick, der sich ihr auf dem friedvollen Strand bot, erschütterte sie zutiefst.
Er war bereits am Strand und trat gerade mit steifen und ungelenken Schritten aus dem Wasser. Die Augen des Mädchens weiteten sich, als sie die vielen kleinen und großen Wunden auf seinem Oberkörper entdeckte. Seine sonst so anmutigen Bewegungen wirkten mühsam, und er blutete stark aus einer tiefen Wunde auf der rechten Schulter. Sein Gesicht war bleich und tiefe Schatten lagen um seine Augen. Mit schweren Schritten ging er auf den üblichen Schattenplatz zu, wo er sich unter qualvollem Stöhnen in den Sand fallen ließ.
Als er ihr im Sitzen leicht die Rückseite zudrehte, unterdrückte sie gerade noch den erschrockenen Laut, der sich über ihre Lippen stehlen wollte. Blutige Striemen zogen sich über seinen Rücken. Ein unverkennbares Zeichen, dass er ausgepeitscht worden war. Zeugen grausamer Gewalt, die sich in das junge Leben einbrannten, seine Seele prägten und nie mehr auszulöschen waren.
Ihr eigener Herzschlag pochte schmerzhaft gegen ihre Schläfen. Schrecken und Mitleid schnürten ihre Kehle zu und hinderten sie daran zu atmen. Verzweifelt presste sie eine Faust gegen ihren Mund. Tränen des Zorns quollen aus ihren Augen. Ihre Schultern zuckten in einem krampfartigen Takt, während sie darum kämpfte, das hysterische Schluchzen, das sich ihren Hals hochquälte, zu unterdrücken. Ein nach Luft schnappendes Aufheulen entwich ihren zusammengepressten Lippen. Der Junge richtete sich auf und starrte sekundenlang auf die Blätter. Eine Welle der Panik brach über sie herein. Sie wollte aufspringen und kopflos in den Dschungel flüchten, als ein lautes Knacken, nicht weit von ihrer Position entfernt, die Ankunft ihres Vaters ankündigte.
Verstört kauerte sie sich auf den Boden und ließ ihren Tränen freien Lauf. Wer mochte dem Jungen das nur angetan haben und warum? Hatte man ihn schon öfters derart misshandelt? Saß deswegen immer der bittere Zug in seinen Mundwinkeln, als hätte er bereits zu viel Schmerz erlitten?
Sie weinte bitterlich und barg den Kopf auf ihren Knien, ihre Arme wie zum Schutz darübergelegt. Sie weinte, bis sie sich vollkommen leer fühlte. Nachdem sie sich einigermaßen beruhigt hatte, gewann, trotz aller Erschöpfung, die Neugier wieder die Oberhand. Zu ihrer großen Erleichterung war ihr Vater bereits dabei, die Verletzungen des Jungen sanft, aber mit viel Geschick zu versorgen. Dieser ließ sich dankbar in die Fürsorge ihres Vaters fallen, und sie fragte sich einmal mehr, warum er das alles tat? Das Verhalten ihres Vaters war ihr ein Rätsel, aber vermutlich würde sie auf ihre Fragen keine Antwort erhalten.
Das Mädchen seufzte und holte tief Luft. Gerade gab ihr Vater dem Jungen etwas zu trinken. Als sie sich fragte, was er ihm wohl dort angeboten hatte, fiel sein Körper plötzlich auf die Seite und blieb reglos im Sand liegen.
„Nein!“
Mit einem Satz sprang sie auf, als sie sich auch schon ungläubig dem beruhigenden Gesicht ihres Vaters gegenübersah. Liebevoll nahm er sie an der Hand und zog sie hinter sich her. Er wirkte nicht im Mindesten überrascht, und ein wissendes Lächeln saß in seinen Augenwinkeln. Wahrscheinlich hatte er bereits gewusst, dass sie die beiden beobachtet hatte. Auf einmal kam sie sich unendlich dumm vor. Als sie an der Hand ihres Vaters durch das Blattwerk trat und auf den Jungen zuging, traf sie die Erkenntnis wie ein Schlag.
„Er wird ein Pirat, nicht wahr?“, keuchte sie auf.
„Ja, in ein paar Tagen ist es so weit. Er ist nun alt genug, sein Schiff ist bereits gebaut, und das Bündnis kann vollzogen werden.“ Die grünen Augen ihres Vaters fixierten sie ernst.
„Warum …“ Ihre Stimme brach. Ihr Vater war niemals damit einverstanden gewesen, dass die Waidami Piraten heranzogen und sie dann auf Kaperfahrt schickten. Und jetzt lernte er selbst einen von ihnen an?
„Warum? Warum hast du all die Zeit mit ihm verbracht?“ Zorn brach in ihr aus und forderte eine Erklärung.
„Ich weiß, dass dieser Junge hier die Geschichte unseres Volkes verändern wird. Auch wenn es dir im Augenblick unverständlich sein mag, ist er die einzige Hoffnung, die wir haben, um Bairani einst vernichten zu können. Erst dann werden wir unsere