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Drei Tage später stand Cale am Strand und betrachtete unzufrieden den Fortschritt der Reparaturarbeiten. Es hatte bereits einen guten halben Tag gedauert, bis sie die Monsoon Treasure endlich an den Strand gezogen hatten. Seitdem waren die Arbeiten am Rumpf kaum vorangeschritten, da sie nicht genügend Holz zur Verfügung hatten. Einige Männer der Besatzung hatten sich am frühen Morgen aufgemacht, um nach McPhersons Anweisungen geeignete Bäume zu suchen und zu fällen. Doch bis jetzt hatte er kein Lebenszeichen mehr von ihnen erhalten. Cale fluchte leise vor sich hin. Er ließ seinen Blick über das verwaiste Dorf gleiten.
Die Bewohner des Fischerdorfes hatten die Vorgänge voll Misstrauen beobachtet, hatten aber nicht versucht, sie zu stören oder gar daran zu hindern. Das gesamte Dorf wirkte nun wie ausgestorben, als hätten sich seine Bewohner in das Hinterland zurückgezogen. Überraschend öffnete sich die Tür zu der großen Hütte, in deren Öffnung die Frau erschien, die Jess mit seinem Namen angesprochen hatte. Cale war sich fast sicher, dass ein unglückseliger Zufall sie auf die Eltern von Jess Morgan hatte treffen lassen. Der Mann, der sich hinter ihr aus der Hütte schob, besaß eine solch verblüffende Ähnlichkeit, dass er der Vater sein musste. Cale schüttelte den Kopf über die Situation und fragte sich, was in diesen Menschen vorgehen musste. Mehr als ein Jahrzehnt war ihr Sohn spurlos verschwunden und kam zurück, um als Pirat das eigene Dorf zu plündern.
Misstrauisch erkannte Cale, dass beide ihre Schritte in seine Richtung gelenkt hatten und sich vorsichtig näherten. Das Gesicht der Frau wirkte bleich und angespannt, während der Mann sie entschlossen an die Hand nahm und Cale gelassen entgegensah. Cale konnte sich eines Schmunzelns nicht erwehren. Der Blick aus eisblauen Augen, der jeden anderen sicherlich einschüchtern konnte, war der gleiche, den Jess Morgan so oft nutzte.
Der Fischer blieb in einiger Distanz stehen.
„Verzeiht, aber wir möchten uns nach dem Befinden Eures Captains erkundigen.“ Seine Stimme klang fest, während seine Frau mit zusammengepressten Lippen neben ihm stand. Ihre Hände umklammerten in einem verzweifelten Griff die Hand ihres Mannes, als wäre sie das Einzige, was sie aufrecht hielt. Der Blick ihrer weit aufgerissenen Augen war bittend auf Cale gerichtet.
Cale seufzte innerlich und überlegte, was er ihnen antworten sollte. Wenn er ihnen berichtete, dass er heute Morgen mit ihrem Sohn gesprochen hatte, der bei Bewusstsein war und sich bereits wieder in der Koje aufrichten konnte, würde er ihnen wahrscheinlich den nächsten Schlag versetzen. Nur jemand, der mit dem Teufel im Bunde stand, konnte eine solche Verletzung überleben, geschweige denn, sich so schnell davon erholen. Er ging davon aus, dass Jess spätestens in einer Woche, wenn die Treasure bis dahin fertiggestellt war, wieder völlig genesen sein würde. Dies war für jeden normalen Mann undenkbar. - Allerdings, was konnte noch schlimmer sein, als seinen eigenen Sohn niederzustechen? Cale räusperte sich und tat einen Schritt auf die beiden zu.
„Es geht ihm den Umständen entsprechend gut, er wird es überleben.“
Der Mann nickte unmerklich, während die Frau ihn erwartungsvoll ansah.
„Es wird wohl problematisch werden, das richtige Holz für Euer Schiff herbeizuschaffen. Wir werden Euch helfen.“ Sein Blick wanderte über den Rumpf der Treasure. „Einige Dorfbewohner sind bereit, Holz zu besorgen, wenn Ihr versprecht, uns anschließend sofort zu verlassen.“ Sein Blick wurde hart, als Cale ihm danken wollte, und der Fischer hob abwehrend eine Hand.
„Dankt uns nicht, lasst uns nur in Frieden hier leben!“ Er wollte sich abwenden, doch die zarten Hände seiner Frau hielten ihn bestimmend zurück. Ein unwilliges Knurren entrang sich seiner Kehle, und er runzelte ablehnend die Stirn.
„Jess, bitte.“ Die Frau sah ihn energisch an. Cale konnte seine Überraschung nicht verbergen, als er hörte, dass der Mann den gleichen Namen trug. Dies war jedoch recht üblich in der Gegend und nichts Außergewöhnliches, trotzdem verdeutlichte es erneut die Absurdität der Situation.
Widerwillig sah ihn der Fischer an. Es war unverkennbar, wie er mit sich kämpfte, bevor er sprach: „Ist es möglich, ihn zu sehen?“
Cale hatte mit solch einem Ansinnen gerechnet, trotzdem war er ehrlich verblüfft. Das Gesicht der Frau war wieder flehentlich auf ihn gerichtet. Unruhig knetete sie ihre Finger, die sie zögernd von der Hand ihres Mannes gelöst hatte. Ihre Lippen formten stumm, aber voller Leidenschaft eine Bitte, die er auch ungehört vernahm. Ihr Mann stand unbeugsam neben ihr. Seine Frage war zwar unwillig erfolgt, doch hatte sie die gleiche Sehnsucht zum Inhalt. Cale schluckte schwer.
„Ich denke, das ist in seinem momentanen Zustand keine gute Idee.“ Cale schüttelte bedauernd den Kopf und biss sich auf die Lippen. Was sollte er ihnen denn anderes sagen? Ihr Wunsch war verständlich, aber seine Erfüllung nicht möglich. Aufatmend verfolgte er, wie die beiden sich verlegen von ihm verabschiedeten und dann langsam, Hand in Hand, über den Strand zu ihrer Hütte zurückkehrten. Cale nahm sich vor, Jess bei seinem nächsten Besuch von der Begegnung zu berichten. Sollte Jess selbst entscheiden, schließlich war es seine Vergangenheit, die ihn einholte.
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Während sich die Sonne erst langsam aus ihrem nassen Bett hinter dem Horizont erhob, betrat Cale voller Neugier die Kapitänskajüte. Zu seiner Überraschung saß Jess schon auf der Kante seiner Koje, während Hong konzentriert seine Wunde untersuchte.
Jess lächelte ihm entgegen und wartete geduldig, bis Hong einen frischen Verband um seinen Bauch geschlungen hatte. Er wirkte völlig entspannt, und nichts erinnerte mehr an die schwere Verwundung vor ein paar Tagen. Es war nicht das erste Mal, dass Cale Zeuge der wundersamen Heilung von Jess Morgan wurde, aber immer wieder versetzte ihn diese Art der Zauberei in Erstaunen. Manchmal hatte es sogar etwas Beängstigendes an sich, und Cale fragte sich, welchen Preis sein Freund für diese Gabe bereits gezahlt hatte und noch zahlen würde. Er musste an die gestrige Begegnung denken und wollte gerade Jess davon berichten, als dieser unvermittelt aufkeuchte und mühsam nach Luft rang. Cale wollte zu ihm stürzen, doch der kleine Chinese hielt ihn mit einem entschiedenen Kopfschütteln zurück.
„Schick … sie … weg. Sofort!“ Jess presste die Worte gequält hervor und griff sich krampfhaft an sein Herz. Seine Augen weiteten sich für einen winzigen Moment in Fassungslosigkeit und richteten sich hilfesuchend auf Cale, der ihn besorgt ansah. Er konnte nicht begreifen, was hier gerade geschah und sah irritiert zu Hong, der seine Hand beruhigend auf die Schulter seines Captains legte.
„Du musst dich ihnen stellen, Jess. Es hält den Genesungsprozess auf.“
Cale konnte nur verständnislos zwischen dem Chinesen und Jess hin und her starren. Der Atem seines Freundes normalisierte sich wieder und die ungewohnte Panik, die für einen winzigen Bruchteil von ihm Besitz ergriffen hatte, schien Jess wieder losgelassen zu haben. Trotzdem wirkte er seltsam verwirrt und unruhig und war damit nicht der Einzige im Raum, wie Cale sich im Stillen eingestand.
„Schick sie fort, Cale!“ Die Stimme von Jess hatte ihre übliche Festigkeit zurückgewonnen. Mit dunkel umwölkten Augen sah er auf seinen Ersten Maat.
„Die Fischer stehen wieder vor dem Schiff.“ Hong setzte ungeduldig zu einer Erklärung an. „Die Strömungen der beiden, insbesondere die der Frau, verursachen in Jess offenbar eine Art körperlicher Schmerzen.“ Der Chinese richtete sich auf und warf seinem Patienten einen mürrischen Blick zu, den dieser in seiner üblichen Art ignorierte, und Hong ein unwilliges Brummen entlockte. Sorgfältig sammelte er seine Sachen ein und ordnete sie in eine lederne Tasche, die er immer gewissenhaft hütete und niemanden sonst aushändigte.
„Sie wollen dich sehen, Jess.“ Cale überlegte einen Moment, bevor er fortfuhr und von seiner Begegnung mit ihnen erzählte.
Jess schüttelte entschieden den Kopf und ließ sich zurück auf seine Koje sinken. Er wirkte von einem Augenblick zum anderen vollkommen erschöpft.
„Ich kann ihre Qualen spüren.“ Jess schloss seine Augen und holte tief Luft, bevor er fortfuhr. „Sie treffen mich mit ihren Gefühlen, ihrem Schmerz bis – in mein Herz.“ Seine Augen öffneten sich und starrten dumpf an die Decke.
„Von