Erstaunt schaute Anke ihren ehemaligen Chef an, doch er ließ ihr keine Zeit zum Überlegen: »Was soll das Kind denn denken, wenn es regelmäßig zu uns kommt und wir uns wie Fremde ansprechen?«
Nun erst spürte Anke die Freude über das Vertrauen, das ihr von den beiden entgegengebracht wurde. Überglücklich umarmte sie die beiden. Tränen der Rührung standen in ihren Augen.
»Jetzt will ich aber keine Tränen, sondern fröhliches Lachen sehen.« Kullmann schmunzelte. »Ich wollte dir eine Freude machen.«
»Ich freue mich riesig, ich kann es nur nicht so zeigen.«
»Doch, doch! Das kannst du«, widersprach Martha energisch.
Gemeinsam besiegelten sie ihren Entschluss, indem sie ihre Wassergläser erhoben und sich zuprosteten.
»Wenn das Kind einmal da ist, stoßen wir mit Wein an.«
6. Kapitel
»Du siehst übernächtigt aus“, stellte Erik fest, als Anke das Büro betrat. „Warst du gestern aus?«
»Klar! Ich war in der Disco und habe die ganze Nacht getanzt.«
»Entschuldige, es geht mich nichts an. Hier, ich habe dir Tee gekocht.«
Auf Ankes fragenden Blick fügte er unsicher an: »Du trinkst doch Tee, oder bist du wieder auf Kaffee umgestiegen?«
»Nein, nein. Du hast das schon richtig erkannt. Ich staune nur über deine Fürsorge.«
»Das ändert sich, sobald das Kind da ist.« Erik wurde ganz verlegen und wollte sich geschwind davon machen, als Anke ihn aufhielt: »Ist bei der Nachbarschaftsbefragung etwas Interessantes herausgekommen?«
»Gut, dass du mich daran erinnerst. Heißt deine Hebamme Susi Holzer?«
Anke nickte.
»Diesen Namen haben wir gestern erfahren. Eine Nachbarin erzählte uns, dass Susi Holzer und Sybille Lohmann vor einem halben Jahr heftigen Streit bekommen haben. Der Grund des Streits soll ein Baby gewesen sein. Könntest du versuchen, Näheres herauszufinden?«
»Klar, ich werde Susi einfach fragen«, stimmte Anke zu, fühlte sich allerdings nicht wohl bei dem Gedanken, ihre Hebamme könnte in den Fall verwickelt sein. Bei ihrer Entbindung brauchte sie eine Begleitung, der sie blind vertrauen konnte.
»Außerdem ist uns Sven Koch entkommen«, unterbrach Erik ihren Gedankengang. »Forseti fordert momentan einen Durchsuchungsbefehl für sein Haus an. Ich warte nur noch auf den Marschbefehl.«
»So ein Mist«, schimpfte Anke. »Ich habe eine andere Spur und wollte dich bitten, mir zu helfen.«
Erstaunt schaute Erik sie an.
»Ich möchte aber noch nichts von meinem Plan sagen«, gestand Anke.
»Du kannst auf mich zählen«, sprach Erik die Worte aus, auf die sie gewartet hatte.
Fast im gleichen Augenblick betrat Forseti das Zimmer.
»Ich habe den Durchsuchungsbefehl von Staatsanwalt Foster bekommen. Anke, Sie muss ich bitten, den Bericht über die Befragung zu schreiben. Die Unterlagen finden Sie in der Ablage im Büro der Kollegin Fanroth. Wir machen uns auf den Weg zum Haus von Sven Koch.«
Anke konnte es nicht fassen. War sie inzwischen zur Schreibkraft degradiert worden? Oder passte es ihrem Chef nicht, dass sie eine Spur verfolgte, während er nur im Dunkeln tappte? Sie probierte den Tee, den Erik ihr gekocht hatte. Es war Apfeltee, er schmeckte fantastisch.
Bevor sie sich an die unliebsame Arbeit machte, versuchte sie ihre Hebamme zu erreichen. Aber sie hatte kein Glück. Es meldete sich nur der Anrufbeantworter. Zerknirscht nahm sie die Unterlagen zur Nachbarschaftsbefragung und begann, alles niederzuschreiben. Als das Telefon klingelte, war sie erleichtert über die Abwechslung. Zu ihrer Überraschung war Norbert Kullmann am Apparat.
»Was gibt es?«
»Anke, mir ist etwas eingefallen. Ich weiß nicht, inwieweit dir das bei deinen Ermittlungen weiterhelfen kann. Aber ich bin der Überzeugung, dass du auf jeden Fall informiert sein sollst.«
Anke stutzte. Das hörte sich nicht gut an,.
»Deine Hebamme heißt Susi Holzer, stimmt das?«
Anke schluckte. Das hörte sie an diesem Morgen schon zum zweiten Mal. »Ja!«
»Als du mir den Namen genannt hast, bin ich nicht sofort darauf gekommen. Erst im Laufe der Nacht habe ich mich an den Fall erinnert.«
»Mach es bitte nicht so spannend«, drängte Anke, wobei sie an Eriks Worte denken musste.
»Susi Holzer arbeitet nebenbei noch als Babysitterin. Eines Abends sollte sie die Nichte von Sybille Lohmann, ein Mädchen namens Gina Koch, betreuen. Das Kind starb in dieser Nacht. Als Todesursache wurde plötzlicher Kindstod festgestellt.«
Anke wurde schlecht.
»Es gab nicht den kleinsten Hinweis, dass mehr dahintersteckte. Aber damit war die Sache nicht erledigt. Sybille hatte Susi die Schuld an dem Tod des Kindes gegeben«, berichtete Kullmann weiter, während Anke sich immer unwohler fühlte. »Kurze Zeit später starb ganz überraschend auch die Mutter des Kindes, Tanja Koch. Sie war die jüngere Schwester von Sybille und drogenabhängig.«
»Waren die Anschuldigungen von Sybille berechtigt?« Diese Frage interessierte Anke am meisten.
»Nein! Es war, wie von Anfang an festgestellt wurde, ein plötzlicher Kindstod. Das hätte jedem Babysitter passieren können. Susi Holzer traf keine Schuld.«
»Wie lange liegt dieser Fall zurück?«
»Ein halbes Jahr.«
»Warum weiß ich nichts davon?«, staunte Anke.
»Wir bearbeiteten den Fall der Polizistenmorde, wie du dich wohl erinnerst. Der plötzliche Kindstod wurde nur vom Rechtsmediziner bearbeitet und anschließend vom Amtsleiter Wollny abgeschlossen. Da wir genug zu tun hatten, übernahm Wollny diese Angelegenheit.«
»Du meinst, dass die Drohanrufe von jemandem kommen, der über diesen alten Fall informiert ist?«
»Oder jemand, der betroffen ist«, spann Kullmann den Faden weiter.
»Wer war der Vater von Gina Koch?«
»Ich glaube, ein wenig musst du noch selbst machen. Alles weiß ich nämlich nicht mehr so genau. Ich wünsche dir noch gutes Gelingen und besuch uns bald wieder. Der gestrige Abend war schön und wir freuen uns schon auf das nächste Mal.«
Nun wusste Anke, warum Sybille und Susi Streit hatten. Aber mit diesem Wissen fühlte sie sich alles andere als wohl. Darüber musste sie mit ihrer Hebamme sprechen, weil sie sich ganz sicher sein musste, ob Susi wirklich die Richtige für ihre Entbindung war. Einerseits sollten Menschen mit einer Vergangenheit wie Susi eine neue Chance bekommen, aber musste ausgerechnet sie es sein, die ihr diese Chance gab? Sie fertigte den Bericht und versuchte aufs Neue, Susi telefonisch zu erreichen. Aber wieder ohne Erfolg. Dieses Gespräch musste warten, was Anke nicht gut in den Kram passte.
*
Fast hätten die Beamten Sybilles Haus verfehlt. Es lag weit von der Hauptstraße zurückgesetzt und Bäume und Sträucher säumten die Auffahrt. braunes, rotes und gelbes Laub klebte nass vom Regen am Boden, wodurch es gefährlich glatt wurde. Vorsichtig gingen die Beamten über die Zufahrt zum Haus. Putz bröckelte von der Fassade ab.
Der Wind blies heftig. Regen klatschte auf ihr Ölzeug, das sie sich zum Schutz vor der nassen Witterung angezogen hatten. Die Haustür war alt und brüchig, weil sie schutzlos dem Wetter ausgesetzt war. Auf ihr Klingeln öffnete niemand.
Forseti