Just in dem Moment als das wohlige Gefühl vollständig seinen Körper übernommen hatte, machte der Zug eine abrupte Vollbremsung und sie kamen wenig später zum Stehen.
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Genießen: Metzger wollte den ersten Tag in seiner eigenen Wohnung ruhig angehen und sich einfach selbst etwas gönnen. Hatte er sich die letzten Tage bemüht, anderen Menschen das Genusstheater gekonnt aufzuführen, sollte er heute selbst sein eigener Gast und Gastgeber zugleich sein. Allein der Gedanke, das „Genusstheater“ als solches einmal für sich durchgängig zu definieren, erfüllte ihn mit einer solch großen Vorfreude, dass er dies schon als Genuss empfand. Die Autosuggestion, sich schöne Dinge vorzustellen und dann ein wenig die damit verbundenen Gefühle zu imaginieren, war immer wieder eine schöne Erfahrung. Er erinnerte sich an eine interessante Abhandlung über die mentale Vorbereitung erfolgreicher Wettkampfsportler vor großen Herausforderungen, die sich zwar nicht den Sieg an sich vorstellen, aber die erfolgreiche Aneinanderreihung der wichtigen Abläufe. Die Konzentration im Startblock, der Start, die ersten Meter in noch geduckter Haltung, das Aufrichten und so weiter und so weiter bis hin zur Staffelübergabe. Wie er selbst wusste, bei Team-Wettbewerben wie im richtigen Leben die eigentliche Herausforderung. Was jedoch – so die Wissenschaft – mit der richtigen Einstellung wesentlich seltener zum Desaster führte.
Diese Theorie, dass allein die positive Vorstellung von Abläufen zum Erfolg führen konnte, zeichnete ihm ein breites Grinsen auf sein von den letzten Tagen etwas müdes Gesicht. Konnte er sich für den Abend ein nettes Erlebnis herbeikonstruieren?
Doch vor das mentale Genießen hatte die Realität die noch unaufgeräumt hinterlassene Wohnung gesetzt. Er war vor rund drei Wochen quasi zu einer Tournee aufgebrochen, hatte sechs Aufträge in unterschiedlichen Städten abgearbeitet und jetzt musste Auftrag Nummer sieben erledigt werden. Ohne Messer und Gewürze. Er wirbelte eine gute Stunde durch die Wohnung, begrüßte beim Wegräumen lauthals seine sieben Sachen und knüpfte wieder bei der Imagination für seinen persönlichen Abend an. Er malte sich ein für diese Jahreszeit optimales Abendessen aus. Zu sich selbst war er deutlich ehrlicher und reduzierte die Abfolge auf das Wesentliche, ohne das übliche Chichi, das die manchmal hohen Preise zu rechtfertigen versuchte. Für die warme Jahreszeit schien ein Tintenfisch-Carpaccio mit einem leicht fruchtigen Dressing ein idealer Start. Und wenn er schon auf der Fischlinie war, wäre ein Seeteufel ein gelungener Hauptgang, über dessen Zubereitung er noch ein wenig nachdachte. Erfolgreiche Autosuggestion setzte ein hohes Maß an Wissen um die gewünschten „Bilder“ und auch Erfahrung voraus. War der erste Gedanke eher kindlich nach dem Motto gestrickt, „Ich muss mir nur vorstellen, wie ich die Millionen ausgebe, dann muss ich nur noch Lotto spielen und schon klappt es!“, nahm er sein Vorhaben nun ernst. Kreativität hinsichtlich des Machbaren, der Zutaten und Zeitplanung. Den dritten Teil hatte er in den letzten Tagen oft übersprungen und zu stark auf die ersten beiden Teile gesetzt, um den dritten Teil durch noch mehr Mut und Improvisation zu ersetzen. Hätte er die letzten Aufträge mit besserer Vorbereitung etwa mehr genießen können? Er wollte es auf jeden Fall das nächste Mal versuchen. Er verfing sich in seinen philosophischen Gedanken und steckte plötzlich fest. Die letzten Tage hatten Metzger offensichtlich zugesetzt. Ihm gingen mathematische Gleichungen bezüglich perfekter Imagination durch den Kopf und er verlor darüber den Faden zu seinem eigentlichen Vorhaben. Die Aufträge der letzten Tage flogen rückwärts durch seine Gedanken. Erst servieren und dann die Zutaten beschaffen, danach Fische ausnehmen – alles drehte sich im Kreis. Als Metzger wieder in der Realität ankam, saß er auf seinem lehnenfreien Hocker in der Küche. Seine Augen blieben am Kühlschrank haften. Seine Hoffnung beruhte darauf, dass noch kaltes Bier darin lagerte. Metzger stand auf und öffnete vorsichtig die Kühlschranktür, als ob er mit zu schnellem Öffnen ein Bier verschrecken könnte. Es langweilte sich tatsächlich noch ein einsames Feldschlösschen im obersten Fach. Das war eindeutig zu wenig, um es sich gemütlich zu machen. Er musste doch nochmals das eigene Nest verlassen. Sollte er sich noch verabreden?
Als das Telefon klingelte, beschloss er, jedes halbwegs gute Angebot anzunehmen sich durch die Stadt treiben zu lassen.
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In Frank Landweil manifestierte sich in kürzester Zeit ein Horrorszenario. Es musste sich jemand vor den Zug geworfen haben. Alles andere schloss er kategorisch aus. In welcher Situation musste sich der Selbstmörder befunden haben? Was hinterließ er? Den anderen Fahrgästen in seinem Wagon schienen ähnliche Gedanken durch den Kopf zu schießen, wobei sie nicht so schockiert aussahen, wie er sich fühlte. Bei genauerem Betrachten entdeckte er gar eine ganz andere Emotion: Sie waren genervt. Er war fassungslos. Da hatte sich womöglich ein Mensch vor wenigen Sekunden das Leben genommen und diesen herzlosen Wesen war es vollkommen gleichgültig, ja sie waren sogar gestört davon. Bestimmt dachten sie sich Dinge wie: „Hätte der sich denn nicht vor einen anderen Zug werfen können?“, „Jetzt verpasse ich wegen dem auch noch meine Serie heute Abend!“ oder „Ich komme nicht pünktlich zum Meeting, nur weil sich hier jemand umbringen musste!“ oder wie Kaiser Wilhelm nach dem Selbstmord seines eigenen Sohnes „Dass er uns das auch noch antun musste“. Er wurde so wütend, dass er schließlich aufstand, sich in den Gang stellte und zur Irritation seiner Mitmenschen laut „Ich schäme mich für Sie alle!“ in die Stille und ihre Gesichter rief. Gerade als er seinen theatralischen Auftritt mit einem entschlossenen Gang in den nächsten Wagon fortsetzen wollte, erhaschte er einen kurzen Blick aus dem Fenster und sah ein blaues Schild mit weißer Schrift - BERN HBF. Der Zugführer hatte schlichtweg zu spät gebremst für die Bahnhofseinfahrt. Frank Landweil wurde heiß, Schweißperlen sammelten sich auf seiner Stirn, Demütigungen in der Öffentlichkeit waren die Hölle für ihn. Er verließ hastig den Zug.
Die Peinlichkeit des Moments hallte noch nach, als Frank Landweil in der großen Halle des Bahnhofs stand. Am Kopfende des schier riesigen Raumes störten ihn rote Neonröhren und es passte zum restlichen Gebäude. Ein Mann hatte wohl im Vorbeigehen seinen Blick aufgefangen und drehte sich zu ihm um, um im Laufen mit einem leichten Lächeln zu sagen „Der Wanner hat sich das bestimmt auch anders vorgestellt!“ Wer zur Hölle war der Wanner?
Er steuerte das nächste Café an, um sich einen erneuten Überblick über seine jetzige Situation zu verschaffen, an der sich objektiv nur der Ort geändert hatte. Es war ein typisches Bahnhofscafé mit ein paar Sitzgelegenheiten. Es trug den englischen Namen der Heidelbeere und Frank Landweil fragte sich, warum das besser klingen sollte. Er war also in Bern angekommen. Die Fahrt hierher kam ihm wie eine Ewigkeit vor, ein kurzer Blick auf seine Uhr verriet ihm, dass das nicht stimmte. Er setzte sich in eine Ecke des Cafés, kramte das Ticket aus seiner Manteltasche und überprüfte seine Umsteigezeit. Er hatte noch eine knappe halbe Stunde, bis er den nächsten Zug nehmen musste. Er fühlte sich plötzlich in seinen Caféaufenthalt am Morgen zurückversetzt. In diesem Moment kam auch ein junger Mann auf ihn zu, allerdings hellwach und aufgedreht im Kontrast zu dem verschlafenen Jungen vom Morgen. Der Junge ratterte in unglaublicher Geschwindigkeit Angebote und Gerichte runter und informierte ihn über eine Vielzahl an Kombinationsmöglichkeiten der verschiedenen Menus. Auch hier entschied sich Frank Landweil für die Empfehlung des Jungen und er nahm seine zweite „Business-Mahlzeit“ des Tages zu sich, diesmal: das Business-Mittag.
Den Mantel über seinen rechten Arm gelegt, schlenderte er in Richtung eines Zeitungsladens. Er wollte sich noch eine Zeitschrift kaufen, bevor er weiterfuhr. Eine Angewohnheit aus seiner Studienzeit. Er spürte plötzlich wieder eine wohlige Leichtigkeit in ihm aufsteigen. Der Gedanke an sein Ziel Siena ließ ihn gar ein wenig euphorisch