Das Gegenteil der Wirklichkeit. Marcel Karrasch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marcel Karrasch
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754178584
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winkte jedoch nur mit einem milden Lächeln zurück. Die Mutter sah es und zog den Jungen zu sich und machte eine entschuldigende Geste in seine Richtung.

      Als der Zug einfuhr, fühlte er sich in seine Kindheit zurückversetzt. Er sah sich mit acht Jahren wie er mit großen Augen das erste Mal von seinem Vater auf eine längere Zugfahrt mitgenommen wurde. Sie fuhren damals von Frankfurt nach Hamburg. An den Aufenthalt in der Stadt konnte er sich nicht mehr erinnern, an die lange Fahrt dorthin sehr wohl – sie war herrlich gewesen. Der Vater hatte ihm an jedem Halt ein wenig über die Stadt erzählt und immer, wenn sich der Zug wieder in Bewegung gesetzt hatte, flüsterte er: „Sie haben uns wieder nicht gekriegt, sehr gut!“, als wären sie auf der Flucht und lächelte ihm dabei verschwörerisch zu. Was waren sie für Freunde gewesen, es kam ihm vor wie ein anderes Leben.

      „Junger Mann, könnten Sie mir vielleicht mit meinem Koffer helfen?“, sichtlich aus seinen Träumen gerissen war Landweil erschreckt, als plötzlich das ältere Ehepaar vor ihm stand.

      „Verzeihen Sie, ich war in Gedanken, selbstverständlich!“ er nahm die zwei Koffer und trug sie die drei kleinen Stufen in den Zug.

      „Soll ich Ihnen die Koffer gleich in die Hutablage heben?“, Landweil war bemüht seine mangelnde Aufmerksamkeit wiedergutzumachen.

      „Danke, sehr freundlich von Ihnen!“, das Paar lächelte und setzte sich zufrieden.

      Er lief den Gang zwischen den Sitzen entlang und hielt Ausschau nach seiner Nummer. Fensterplatz in Fahrtrichtung, das hatte die Dame am Schalter mehrfach betont. Er wurde schnell fündig und ließ sich nieder. Was wollte er in Siena? Was erhoffte er sich von dieser Flucht? Frank Landweil war ratlos. Seine klaren Gedankenbahnen waren verschwunden, es blitzten immer wieder Momentaufnahmen aus seiner Kindheit, Jugend, Studienzeit auf. Das Gewitter hatte seinen Geist in Kürze überrascht und er fand keinen Unterstand. Plötzlich schreckte er auf, als sich eine Person neben ihn setzte. Wie automatisiert sagte er „Ich heiße Frank Landweil, 33 Jahre alt und ich weiß nicht weiter.“.

      8

      Randolf Metzger saß noch etwas verschlafen in einem Café im Hauptbahnhof, auch wenn man sich die Frage stellen konnte, wie bei diesen geringen Ausmaßen des Haupt- ein Nebenbahnhof aussehen könnte. Der Kaffee entsprach, wie sollte es an diesem Ort auch anders sein, nicht seiner Beziehung zu „Cafe“. Was sollte er auch von einem Café erwarten, das überwiegend mit Bestellungen belästigt wurde, die als Ergebnis eine schwarze Brühe in Pappbechern mit Vanillegeschmack oder ähnlichen Abscheulichkeiten hervorbrachte. Er suchte in seinem Gedächtnis nach den wesentlichen Teilchen, die es wert waren, in seine gedankliche Zukunftsdatenbank in die Rubriken „Chance“ und „Just for fun“ abgelegt zu werden. Um den Zug nicht zu verpassen, stellte er auf seinem Smartphone die Weckfunktion mit einem Vorlauf von 15 Minuten vor Abfahrt ein.

      Die gestrige Veranstaltung war erfolgreich verlaufen, was er an den vielen persönlichen Handreichungen und Vorstellungen der Gäste maß. Für diesen Abend hatte er es geschafft, der Bühnenstar zu sein. Die Geographieprobe durch die interessierte Mitvierzigerin konnte er durch geschickte Ablenkungsmanöver und Komplimente ihrer perfekten Ortskenntnisse und vor allem ihres exzellenten Geschmacks in allen Lebensbereichen umschiffen. Die heftige Windböe bei der Frage nach dem Namen der Patronin des besagten Restaurants an der Atlantikküste, manövrierte er durch ein lässiges aus dem Wind gehen mit „in der Küche nennt man sich nur beim Vornamen“ aus. Die Frage nach dem Vornamen blieb aus und hier war klar, dass er die Prüfung bestanden hatte beziehungsweise Frau Detektivin wohl auch etwas auf den Busch geklopft hatte. Danach schaffte er es noch rechtzeitig, mit der ihm bekannten jungen Dame in Kontakt zu treten, deren Begleiter er anscheinend doch durch eine kreative Unverträglichkeit aus dem Rennen geworfen hatte. Sie hatte eine besondere Klasse. Das homöopathische Zunicken in einer Dosis von, sagen wir in der Potenz C-200, signalisierte ihm die stille Übereinkunft zweier Verschwörer, die beide etwas zu verbergen hatten. Sie stellten sich einander wie bisher unbekannt vor. Und siehe da, auch sie nutzte anscheinend unterschiedliche Identitäten, soweit man die Beschreibung seiner beruflichen Tätigkeiten oder privaten Vorlieben, die man Fremden erzählt, als Identität bezeichnen konnte. Kurzum, jeder hatte nach dieser erneuten Kontaktanbahnung eine Telefonnummer mehr im Verzeichnis und er musste sich eingestehen, dass er insgeheim hoffte, dass sie darunter für ihn auch erreichbar war. Als sehr interessant erwies sich der Herr mit dem skandinavischen Akzent, dem er zu schnell anbot, ihn anstatt Herr Metzger Olof in Abwandlung von Randolf zu nennen. Dieser stellte sich mit Finn Magnusson vor und unterlies es, ihn aufzufordern, ihn zur Herstellung der Augenhöhe ebenfalls beim Vornamen zu nennen. Auch hier war die Distanz aktiv hergestellt. In diesem Fall von Finn, also Herrn Magnusson. Herr Magnusson war einer dieser superschlauen, eloquenten und dazu noch gutaussehenden Entrepreneure, die aus einer vermeintlich einfachen Idee mit Hilfe des Internets schon in jungen Jahren viel, viel Geld gemacht hatten. Und er war immer noch jung. Er war kein offensichtlicher Aufschneider und man musste ihm schon ein paar Details aus der Nase ziehen. Sein Interesse an der Kochkunst und deren Inszenierung war ausreichend motivierend, einige Anekdoten zum Besten zu geben und er konnte einen Visitenkartentausch recht unaufdringlich mit der üblichen Vereinbarung der gegenseitigen Wertschätzung über die Bühne bringen. Jenes Teil wurde in der Rubrik „Chance“ abgelegt. Die Gastgeber zahlten ihm, wie vereinbart, den zweiten Teil seines Honorars in Bar aus und er fasste sich bei diesem Erinnerungsteilchen automatisch an die Brusttasche.

      Sein Smartphone machte sich bemerkbar. Er hatte für Erinnerungsmeldungen das Soundschnipsel mit dem Namen „Spielstunde“ gewählt, in der Hoffnung, dass kein anderer auf die Idee kommen könnte, so einen Blödsinn auszuwählen. Mit einem Lächeln erinnerte er sich, welch gymnastische Performance auf Bahnhöfen früher bei dem millionenfach genutzten Nokiaklingeln vonstattenging. Jetzt bewegte sich nur Randolf Metzger. Und zwar zügig zu Bahnsteig 2.

      9

      Der alte Mann hatte keine Eile. Er zog seinen Mantel aus, streifte seinen Schal ab und hängte alles an den dafür vorgesehenen kleinen Haken, der auf einer Schiene am oberen Rand des Fensters verlief. Seinen Hut legte er in die Ablage. Erst dann setzte er sich und wandte sich dem jungen Mann Anfang dreißig zu, der auf dem Stuhl neben ihm bereits Platz genommen hatte und ein wenig verstört auf etwas zu warten schien.

      „Wissen wir denn nicht alle manchmal nicht weiter?“, entgegnete er Frank Landweil, der ihn gebannt anstarrte, als er die Worte sprach.

      Die Einfachheit der Antwort war für ihn schwierig zu fassen. Er versuchte nicht, ein Gegenargument zu suchen. Der alte Mann kam ihm altersmilde vor, belehrt, fast ein wenig weise. Er interpretierte die Aussage gedanklich und fand letztendlich eine deterministische Lebensauffassung darin. War es wirklich so, dass man die persönliche Situation immer als Sonderfall deklariert? Dass man glaubt, dass es für einen selbst keine Lösung gibt, sehr wohl aber für alle anderen?

      Nach einer Zeit des Schweigens schaute Landweil zu dem alten Mann und sprach: „Ich fliehe vor etwas, das ich nicht verlassen kann. Ich renne vor etwas davon, was in mir ist. Ich nehme es mit jedem meiner Schritte mit.“ Er war selbst ein wenig verblüfft von dieser philosophisch anmutenden Äußerung, dazu noch gegenüber einem vollkommen Fremden. Der alte Mann schaute ihn nicht an, als er schließlich antwortete. Er blickte geradeaus, als ob er von einem Teleprompter ablesen würde, was er ihm erzählte. „Als ich noch ein kleiner Junge war, habe ich mal meine Mutter angelogen. Es war nichts Schlimmes, eine Kleinigkeit. Ich fühlte mich so furchtbar, dass ich nicht wusste, wie es weiter gehen soll. Ich saß tagelang in meinem Zimmerchen und wurde immer verzweifelter. Irgendwann gestand ich ihr die Lüge. In dem Moment waren alle Schranken und Mauern verschwunden, die mir den Weg versperrt hatten“, er ließ eine Zeit lang das Gesagte im Raum stehen, bevor er fortfuhr: „In meinem Leben hatte sich rein gar nichts geändert. Ich hatte immer noch meine Mutter angelogen. Aber ich war mir im Klaren, dass es immer weitergeht. Man kann nicht vor etwas weglaufen, was man an einer Leine hinter sich herzieht. Aber es ist einem selbst überlassen, wann man die Leine loslässt. Man kann die Dinge nicht ungeschehen machen, aber man kann ihnen etwas entgegensetzen.“

      Frank Landweil starrte aus dem Fenster