Judith hieß sie, das fiel ihm sofort und gern wieder ein. Frau Bieler, mit Vornamen Judith, seine Nachbarin, die Beziehung zu ihr definierte er bisher über die Anknüpfungspunkte Postkasten leeren und Zweitschlüssel für den Notfall deponieren.
Der Abend hatte sehr relaxt begonnen. Das Corazon war eine klassische Bar für den ersten oder auch den letzten Drink des Abends. Wenige Gäste, die die Bar als ihr Wohnzimmer betrachteten und sich demnach auch nicht so benahmen. Er hasste es, wenn Gäste ihre Fraternisierung mit dem Barkeeper zur Schau stellten, vorwiegend um den Anderen zu zeigen, dass sie hier die besseren, die beliebteren Gäste sein wollten. Er wusste aus eigener Erfahrung, dass diese Zuneigung der Gäste am falschen Platz heikel war, in zweierlei Hinsicht: Zum einen entstand eine Erwartungshaltung, irgendwann in die Freigetränkeliga aufzusteigen, zum anderen dachten manche durch das Duzen bedingt, dass außerhalb der Mauern der Bar das gleiche Verhältnis bestehen bliebe, wo er doch für einen gewissen Teil der Gäste auf der Straße nicht einmal ein Augenbrauenzucken als Gruß übrig hätte. Und der andere Teil sah dies auf ihn bezogen wahrscheinlich ähnlich. Kurzum, der Start in den Abend war auch ohne eigene Planung und Vorbereitung gelungen. Das Clubsandwich war ebenfalls von guter Qualität, konnte aber wie immer seinen Hunger nicht vollständig stillen. Auf dem Weg ins Latin Palace musste er noch eine gegrillte Kalbsbratwurst einnehmen, was ihm ein wohlwollendes Kompliment seiner Nachbarin einbrachte. Er wüsste also, obwohl „Usläänder“, wie man sich in Züri ungekünstelt den Hunger stillen könnte. – Naja, die Wurst ist gut, dachte er, aber der Geldbeutel gibt auch oftmals den Takt vor, behielt es jedoch für sich. Man muss auch mit Komplimenten umgehen können, sollten sie noch so klein sein.
Tanzen lag auf seiner eigenen Talentskala nicht ganz oben, aber er bewegte sich manchmal ganz gern zu guter, tanzbarer Musik, auch wenn er es, dazu noch in fremder Begleitung, nicht wirklich genießen konnte. Er hoffte, dass Frau Bieler nicht zum Lager der Dauertänzerin gehörte, die einem das letzte Tröpfchen Schweiß abfordern würde oder man sich als zu ungelenk in eine ruhigere Ecke verabschiedete, um auf das späte Ende der Ausgelassenheit der Anderen zu warten.
Sie lag ungefähr in der Mitte, was bedeutete, dass Metzger sich nach etwa drei Liedern an die Bar verabschiedete, was er in seinen Augen geschickt mit den Fingern andeutete. Erst zwei laufende Finger und dann den ausgestreckten Daumen zum geöffneten Mund führen. Sie runzelte etwas die Stirn, aber da hatte er sich schon umgedreht.
An der Bar bestellte er sich ein Bier. Natürlich aus der Flasche, da die angezapfte Brühe, die unter dem Zapfhahn stand, nicht eben vertrauenswürdig aussah und er wusste, dass in profitorientierten Läden auch gern die Reste aus Gläsern zum Auffüllen benutzt wurden.
Kaum hatte er die Flasche an den Hals gesetzt, tippte ihm jemand auf die Schulter. Der Schluck und der Anblick des Typen hinter ihm bescherten ihm einen Hustenanfall. Mussten einem immer die Leute aus der Vergangenheit begegnen, denen man schon in der Schulzeit nichts zu sagen hatte. In diesem Fall war es ein flüchtiger Bekannter, den er als Gast bei einem Auftrag kennengelernt hatte und mit dem er im Anschluss der Veranstaltung bei einigen sinneserweiternden Getränken noch lange gesprochen hatte. Er war ein kluger Kopf, aber anstrengend, da er über das Kochen, den Verzehr von Fleisch und den Zusammenhang mit Randolfs Nachnamen eine unheilvolle Zukunft heraufbeschworen hatte. Nach dem Motto Nomen est omen entschuldigte er Metzgers aus seiner Sicht enorme Unwissenheit hinsichtlich gesunder Ernährung. Er gab dem Gemüse den Vorzug. Metzger erinnerte sich sofort an seinen Namen, allerdings nur an den Nachnamen. Gärtner, der braunhaarige Typ mit Bart und dunkler Brille hieß Gärtner. Und dieser beteuerte seiner Zeit, dass es kein Witz wäre und sie mussten lange darüber lachen.
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Er folgte Monique durch die Wagons und überlegte, welche Lebensgeschichte er ihr erzählen würde. Sein Standardrepertoire ließ ihn aus drei bis ins letzte Detail vorgezeichneten Werdegängen wählen. Sohn einer wohlhabenden Familie, der sich gegen die Zwänge dieser wehrte und lieber Philosophie studiert hatte; Lehrer aus Idealismus an einem Gymnasium für die Fächer Mathe, Sport und Geschichte oder die schnelle Karriere im Investmentbanking. Die letzte Möglichkeit wählte Frank Landweil besonders dann gerne, wenn er einen schnellen Rückzug noch in der Nacht vorhatte.
Monique lief zielsicher in das Boardbistro und deutete ihm an, an einem Platz in der Ecke sich hinzusetzen. Er war so irritiert, dass sie ihn „Max“ genannt hatte, dass er kommentarlos den Anordnungen folgte. Seine üblichen Namen, die er flüchtigen Bekanntschaften nannte, bewegten sich zwischen Martin, Felix und Finn (so hieß sein Neffe).
Es blieb ihm nicht viel Zeit, weiter über seine Namenswahl nachzudenken. Monique kam mit zwei Kaffeebechern an den Tisch zurück. Sie hatte brünettes Haar, das sie in einem streng geflochtenen Zopf trug, ihre Augen waren im Kontrast dazu tiefblau. Ein Blau, in dem er sich gleich verlor und die Situation drohte ihm zu entgleiten. Da fing er sich noch:
„Also Monique, Du studierst Kunstgeschichte und jobbst nebenbei als Kontrolleurin. Muss ich sonst noch was wissen, bevor wir heiraten?“, ein Klassiker der immer zog, zumindest abends in Bars bei der richtigen Frau. „Du sagst Leuten nicht Deinen richtigen Namen, reist ohne Gepäck nach Italien und läufst vor irgendetwas davon. Muss ich sonst noch etwas wissen, bevor ich die Polizei rufe?“, antwortete ihm Monique mit einem süffisanten Grinsen im Gesicht, wenig beeindruckt von seinem Flirt. Touché, er hatte sie offensichtlich unterschätzt. „Höchstens, dass ich zwei Millionen erbeutet habe bei meinem Überfall und ich bereit bin, mit Dir zu teilen“, gab er mit zaghafter Stimme wenig überzeugend zurück. „Bleibt noch der falsche Name“, sprach Monique. „Die Menschen mögen ihn, sie verbinden keine schlechten Eigenschaften mit einem Maximilian“, log er ihr zurück und wollte am liebsten wieder zu seinem Sitzplatz verschwinden.
Ihr Gespräch wurde unterbrochen, als ein Kollege von Monique an den Tisch kam und sie zu einer Besprechung mitnahm. Er versicherte ihr, dass er hier warten würde und war gedanklich schon damit beschäftigt, einen galanten Rückzug vorzubereiten.
Er schaute aus dem Fenster und versuchte, der Fahrt etwas Sinnhaftes abzugewinnen, das leichte Vibrieren in seiner Hosentasche bemerkte er zunächst nicht. Nach einer kleinen Ewigkeit konnte er es endlich seinem Smartphone zuordnen und nahm das Gespräch an. Es war sein Bruder. Er befürchtete, dass es eines dieser bedeutungslosen Small-Talk-Gespräche würde, die sein Bruder tätigte, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Dementsprechend lustlos begann er das Telefonat. Als er nach fünf Minuten auflegte, hatte sich seine Situation geändert. Sein Bruder und er hatten für ihre Eltern und Großeltern und eine Reihe anderer Familienmitgliedern und Freunden ein Essen organisiert, ein Koch kam extra in die Villa Steinfeld, das Haus seines Bruders.
In seiner momentanen Gefühlsverfassung war sein erster Gedanke, einfach abzusagen oder sich Ausreden zu suchen, doch kamen seine Großeltern extra aus Frankreich, um den Abend mit ihnen zu verbringen. Er musste nach Frankfurt, das Treffen fand bereits am nächsten Tag statt. In dem Augenblick kehrte Monique zurück und als sie sich setzte, ließ Landweil ihr keine Zeit zum Verschnaufen.
„Was machst Du morgen Abend?“, fragte er, kaum saß sie. „Ich weiß nicht, vielleicht wandere ich nach Thailand aus, warum?“, gab sie zurück und war sichtlich noch in ihrem Spaßgespräch. „Du begleitest mich zu einem edlen Essen, wir kaufen Dir in Mailand ein Kleid für den Anlass“, entgegnete er mit einer Stimme, die er sonst nur in Meetings verwendete. „Aber Du bringst mich nachdem Essen nach Hause, Frank. Und Kleider kaufen lasse ich mir sonst auch nicht“, feuerte Monique und raubte ihm damit die Sprache.
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Von der Silhouette her konnte es aber glücklicherweise nicht Gärtner sein. „Man, was war das gestern für ein lustiger und unbeschwerter Abend“, erinnerte er sich. Sie standen lange an der Theke des Latin Palace und Judith brachte noch eine ausgesprochen nette weibliche Begleitung von der Tanzfläche mit. Gärtner war entgegen seiner Erinnerung ein amüsanter Gesprächspartner und übernahm recht schnell die Unterhaltung, indem er Anekdoten aus der ersten Zusammenkunft der beiden Männer erzählte, seiner Zeit als Veganer, als er jede Nähe zur konventionellen