Skizzen aus dem Londoner Alltag. Charles Dickens. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Charles Dickens
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742769909
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zum Kirchspieldiener vorzuschlagen. Er habe ihn schon lange gekannt, ihn seit Jahren schon genau beobachtet, und seit Monaten mit doppelter Schärfe bewacht. (Ein Kirchspiels-Angehöriger bemerkte hier, man könnte dieses eine »doppelte Aufsicht« nennen, aber die Bemerkung wurde durch den lauten Ruf »zur Ordnung« unterdrückt.) Er wolle wiederholen, daß er ihn seit Jahren im Auge gehabt, und daher mit Recht sagen könne, daß er nie einen Mann kennen gelernt habe, der sich anständiger betrage, der eine bessere Aufführung gehabt, der nüchterner und ruhiger sei, der eine edlere Gesinnung besitze. Ein Mann mit einer zahlreicheren Familie sei ihm nie bekannt gewesen (Heiterkeit). Das Kirchspiel brauche einen Kirchspieldiener, auf den man sich verlassen könne. (»Hört«, von den Anhängern Spruggins; durch ironisches Lächeln von Bung's Partei beantwortet.) Einen solchen Mann schlage er nun vor. (»Nein!« – »Ja!«) Er wolle nicht auf Personen hindeuten; (der Ex-Kirchenvorsteher fuhr in dem bekannten Negativ-Style fort, dessen sich große Redner mit Erfolg bedienen;) er wolle nicht von einem Herrn reden, der einst einen hohen Rang im Dienste Seiner Majestät eingenommen; wolle nicht sagen, daß dieser Herr kein Gentleman sei; nicht behaupten, daß dieser Mann kein Mann wäre; nicht sagen, daß er ein aufwieglerischer Kirchspielsgenosse sei; nicht behaupten, daß er sich nicht blos bei dieser, sondern auch bei frühern Gelegenheiten sehr tadelnswerth benommen habe; wolle nicht sagen, daß er zu jenen mißvergnügten, meuterischen Köpfen gehöre, welche überall Verwirrung und Unordnung anrichteten, wo sie hinkämen; wolle nicht sagen, daß in seinem Herzen Neid, Haß, Bosheit und Lieblosigkeit ihren Wohnsitz aufgeschlagen hätten. Nein! Er wünsche Alles zufrieden und vergnügt, und wolle daher gar nichts weiter sagen. (Beifall.)

      Der Kapitän entgegnete im ähnlichen parlamentarischen Tone. Er wolle nicht sagen, daß er über die so eben vernommene Rede erstaunt sei, nicht sagen, daß sie ihn empört habe. (Beifall.) Er wolle die schönen Epitheta, die auf ihn abgeschossen worden seien, nicht wieder zurückschleudern (erneuerter Beifall); er wolle nicht auf Männer zielen, die einst im Dienste gewesen, aus dem sie nun glücklicherweise entfernt worden wären; die das Arbeitshaus schlecht verwaltet, die Armen gedrückt, das Bier verdünnt, schlecht gebackenes Brod und Knochen statt Fleisch gegeben, die Arbeit vermehrt und die Suppenportionen vermindert hätten. (Stürmischer Beifall.) Er wolle nicht fragen, was Leute dieser Art verdienten. (Eine Stimme: »Nichts für den Tag, und das Uebrige mögen sie sich suchen!«) Er wolle nicht sagen, daß ein Ausbruch des allgemeinen Unwillens sie aus dem Kirchspiele treiben sollte, das sie mit ihrer Gegenwart befleckten. (»Recht so!«) Er wolle nicht von dem unglücklichen Mann reden, der vorgeschlagen sei – er wolle nicht sagen, zum dienstbaren Werkzeug des Kirchspielvorstandes, sondern zum Kirchspielsdiener. Er wolle nicht auf dessen Familienverhältnisse hindeuten, wolle nicht sagen, daß zehn Kinder, Zwillinge und eine Frau ein schlechtes Beispiel zur Nachahmung für die Armen wären. (Lauter Beifall.) Er wolle sich ebensowenig auf Herzählen der Fähigkeiten Bungs einlassen. Der Mann stehe vor ihm, und er müsse in seiner Gegenwart verschweigen, was er von ihm sagen möchte, wenn er abwesend wäre. (Hier winkte Bung einem ihm nahe stehenden Freunde unter seiner Kopfbedeckung vor, indem er sein linkes Auge zudrückte und seinen rechten Daumen an seine Nasenspitze legte.) Es sei wider Bung die Einwendung gemacht worden, daß er nur fünf Kinder habe. (»Hört! Hört!« von der Gegenpartei.) Es müsse ihm aber noch bewiesen werden, daß die Gesetzgebung eine bestimmte Kinderzahl festgesetzt habe, welche für die Stelle eines Kirchspielsdieners befähige. Aber auch zugegeben, daß eine große Familie ein wesentliches Erforderniß sei, so bitte er, Thatsachen und Umstände in Betracht zu ziehen, über die wohl kein Zweifel obwalten könne. Bung zähle fünfunddreißig Jahre, Spruggins, von dem er gerne mit aller möglichen Achtung zu sprechen wünschte, fünfzig. Er frage nun, ob es nicht als sehr möglich, ob es nicht als sehr wahrscheinlich anzunehmen sei, daß Bung, wenn er Spruggins Alter erreicht hätte, eine Kinderzahl um sich erblicken könnte, die sogar noch größer wäre, als die, auf welche Spruggins gegenwärtig seine Ansprüche begründete? (Betäubender Beifall und Schwingen der Taschentücher.) Der Kapitän schloß unter lautem Beifall und Zuruf mit der Aufforderung an die Kirchspielsgenossen, die Sturmglocke zu läuten, und frei und ohne alle Einflüsterungen zur Abstimmung zu schreiten, sich von der Diktatur des Vorstandes los zu machen, oder zu gewärtigen, Sclaven zu bleiben.

      Am folgenden Tage begann das Abstimmen, und nie haben wir in unserem Kirchspiele einen solchen Tumult erlebt, seit wir unsere berühmte Petition gegen die Sclaverei durchsetzten, die für so wichtig erachtet wurde, daß das Haus der Gemeinen auf die Motion des Mitgliedes für den Bezirk ihren Druck verfügte. Der Kapitän bestellte zwei Miethkutschen und ein Cabriolet für Bung's Partei – das Cabriolet für die betrunkenen Stimmgeber, und die zwei Kutschen für die alten Frauen, deren Mehrzahl in Folge des ungestümen Benehmens des Kapitäns zu der Abstimmung und wieder nach Hause gefahren wurden, ehe sie sich von dem plötzlichen Sturm zu erholen im Stande waren, und hinreichend und mit einigem Grad von Klarheit zur Ueberzeugung gelangen konnten, was sie gethan hatten, oder was mit ihnen vorgegangen war. Die Gegenpartei vernachlässigte solche Vorsichtsmaßregeln gänzlich, und die Folge davon war, daß eine große Menge Damen, die gemächlich – denn es war ein sehr heißer Tag – nach der Kirche spazierten, um für Spruggins zu stimmen, listig in die Kutschen gelockt wurden und für Bung stimmten. Hatte des Kapitäns Rede schon keine gewöhnliche Wirkung hervorgebracht, so veranlaßte der Versuch des Kirchspielscollegiums, einen besondern Einfluß zu üben, eine noch größere. Eine Drohung des Kirchspielsschreibers, einer Familie ihren Gewerbsverdienst zu entziehen, wurde diesem klar nachgewiesen; es war ein Versuch der feigsten, niederträchtigsten Gewaltthätigkeit. Es ergab sich nämlich, daß der Angeschuldigte gewohnt war, alle Wochen für sechs Pence Theekuchen bei einer armen, alten Frau, die ein kleines Haus im Kirchspiele gemiethet hatte und mit der eigentlichen Besitzerin des Hauses zusammenwohnte, kaufen zu lassen; bei dem letzten wöchentlichen Einkaufe, kurz vor der Wahl, war ihr nun durch die Vermittlung der Köchin, zwar in geheimnißvollen, aber doch hinreichend klaren Andeutungen zu verstehen gegeben worden, daß des Kirchspielsschreibers Begehr nach Theekuchen in Zukunft lediglich von ihrer Stimme bei der Kirchspieldienerswahl abhängen würde. Dieß gab den Ausschlag. Der Strom hatte sich schon vorher gewendet, und der durch diese Entdeckung hervorgebrachte Eindruck regulirte seinen Lauf vollends. Bung's Partei schlug vor, den Betrag zusammenzulegen, um der alten Frau, so lange sie lebte, wöchentlich für einen Schilling Theekuchen abzunehmen; die Kirchspielsgenossen stimmten laut bei, und Spruggins Schicksal war entschieden.

      Es war vergeblich, daß sich Frau Spruggins mit den ganz gleich gekleideten Zwillingen auf den Armen, den Knaben auf dem rechten und das Mädchen auf dem linken, an der Kirchthüre aufstellte – Frau Spruggins selbst war nicht länger mehr Gegenstand der Theilnahme. Bung wurde mit einer Mehrheit von vierhundert achtundzwanzig Stimmen erwählt, und die Sache des Kirchspiels feierte, den Vorständen gegenüber, seinen Triumph.

      Fünftes Kapitel

      Des Auspfänders Gehülfe.

      Nachdem sich nun die durch die letzte Wahl herbeigeführte Spannung gelegt hat und unser Kirchspiel wieder in den ihm angemessen ruhigen Zustand zurückgekehrt ist, sind wir erst im Stande, unsere Aufmerksamkeit denjenigen Kirchspielsmitgliedern zuzuwenden, die an unseren Parteikämpfen wenig Antheil nehmen und sich von den Wirren und dem Geräusche des öffentlichen Lebens ferne halten. Und wir gestehen hier mit aufrichtigem Vergnügen, daß wir in unseren Bemühungen, zu diesem Zwecke Materialien zu sammeln, besonders durch Herrn Bung selbst unterstützt worden sind, dem wir dadurch zu einer Schuld verpflichtet wurden, deren wir uns wohl schwerlich jemals werden entledigen können.

      Das Leben dieses Mannes ist eines der buntesten gewesen: er hat Uebergänge erduldet – nicht von der Trauer zur Freude, denn er war nie traurig; nicht vom Launigen zum Ernsthaften, denn Ernst bildet keinen Theil seiner Gemüthsart, seine Schicksalswechsel haben vielmehr zwischen äußerster und modificirter Armuth hin- und hergeschwankt, oder – um seinen eigenen bezeichnenden Ausdruck zu gebrauchen – zwischen »gar nichts zu essen, und gerade nur halb genug.« Er gehört nicht, wie er treffend bemerkt, »zu jenen glücklichen Leuten, die, wenn sie auf der einen Seite eines Schiffes splitternackt in's Wasser geworfen werden, auf der andern mit einem nagelneuen Anzug wieder hervorkommen und noch eine Suppenmarke in der Westentasche vorfinden«; eben so wenig aber auch zu denen, deren Muth gebrochen wird, wenn sie keiner Erlösung vom Mißgeschick