Skizzen aus dem Londoner Alltag. Charles Dickens. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Charles Dickens
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742769909
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Herr Robinson schon zehn Minuten früher in einem Cabriolet angelangt war. Er trug einen hellblauen Rock und doppelt gewalkte Kersey-Pantalons, ein weißes Halstuch, Schuhe, und Glacé-Handschuhe, und war sehr erregt, wie das Hausmädchen von Nr. 23 bemerkt haben wollte, das zur Zeit seiner Ankunft gerade die Thürtreppe abgekehrt hatte. Durch dieselbe Gewährsperson erfuhr man auch die weitere Neuigkeit, daß die Köchin, die ihm die Hausthüre geöffnet, eine ungewöhnlich große, prächtige, weiße Schleife an einer weit schmuckeren Kopfbedeckung trage, als gewöhnlich durch das Haubenreglement der vier Jungfern dem im Allgemeinen allerdings etwas übertriebenen Geschmacke der Dienstboten gestattet werde.

      Diese Neuigkeiten verbreiteten sich rasch von Haus zu Haus. Es unterlag nun keinem Zweifel mehr, daß der ereignißvolle Morgen endlich angebrochen war; alle Bewohner der ganzen Reihe stellten sich im ersten und zweiten Stockwerke hinter den Jalousien oder Vorhängen an die Fenster, und warteten der Dinge, die da kommen sollten, in athemloser Spannung.

      Endlich that sich die Hausthüre der vier Miß Willis auf und zugleich wurde der Schlag des vordersten Glaswagens geöffnet; zwei Herren und zwei Damen (der Gleichheit wegen) – ohne Zweifel Anverwandte der Familie – erschienen; stiegen ein, der Schlag schloß sich, der Wagen fuhr ab, und der zweite vor.

      Abermals that sich die Hausthüre auf; die Spannung der ganzen Reihe hatte ihren höchsten Grad erreicht. – Herr Robinson und die älteste Miß Willis erschienen. »Das dachte ich mir,« sagte die Dame in Nr. 19; »ich habe es ja immer gesagt, es werde Miß Willis sein.« – »Das hätte ich in meinem Leben nicht geglaubt.« rief die junge Dame von Nr. 18 der jungen Dame von Nr. 17 zu. – »Wer hätte das gedacht, meine Theure!« antwortete die junge Dame von Nr. 17 der von Nr. 18. – »Es ist zu lächerlich!« rief ein Mädchen, über deren Alter man nicht recht in's Klare kommen konnte, aus Nr. 16 dazwischen. Wer aber vermag das Erstaunen auf dem Gordonplatze zu beschreiben, als Herr Robinson allmählig sämmtliche Miß Willis, Eine nach der Andern, in den Wagen hob, und sich darauf selbst in einen spitzigen Winkel der Glaskutsche drückte, die nun im raschen Laufe der ersten nachfuhr, welche schon die Richtung nach der Pfarrkirche eingeschlagen hatte. Wer vermag die Bestürzung des Geistlichen zu beschreiben, als sämmtliche Miß Willis am Altar niederknieten und die bei der Trauungsliturgie üblichen Antworten mit lauter Stimme aussprachen? – Oder wer vermag die Verwirrung zu schildern, die nun folgte, als nach kaum erfolgter Schlichtung der vorerwähnten Schwierigkeiten – sämmtliche Miß Willis am Schlusse der Feierlichkeit in lautes Schluchzen ausbrachen, so daß die Hallen des heiligen Gebäudes von ihrem vereinten Wehklagen wiederhallten.

      Da die vier Schwestern und Herr Robinson nach diesem merkwürdigen Ereignisse dasselbe Haus zu bewohnen fortfuhren, und da die verheirathete Schwester, welche es nun auch sein mochte, sich nie ohne die andern drei öffentlich zeigte, so ist es uns nicht völlig klar, ob die Nachbarschaft erfahren haben würde, welche die wirkliche Mistreß Robinson sei, wenn nicht ein Umstand eingetreten wäre, von dem sich am sichersten Aufschluß erwarten ließ – ein erfreulicher Umstand, der sich zuweilen in den geordnetsten Familien ereignet. Drei Vierteljahre waren abgelaufen, als die weiblichen Bewohner der Reihe, welchen schon seit einiger Zeit ein neues Licht aufgegangen zu sein schien, mit einer Art Zurückhaltung darüber zu sprechen, und ihre Neugierde auszudrücken anfingen, wie Mistreß Robinson – nämlich die jüngste Miß Willis – sich befinde. Jeden Morgen sah man zwischen neun und zehn Uhr die Mägde der Reihe die Treppe des Hauses hinaufrennen, »Missis' Empfehlungen überbringen, und Missis' wünschen zu wissen, wie sich Mistreß Robinson heute befände?« Und die Antwort lautete stets: »Mistreß Robinson ließe sich ebenfalls empfehlen, befände sich sehr wohl und im Geringsten nicht schlimmer als gestern.«

      Das Fortepiano hörte man nicht mehr – die Stricknadeln waren bei Seite gelegt – das Zeichnen wurde vernachlässigt – und Kleider- und Putzmacherei in der kleinst denkbaren Miniaturskala schien die Lieblingsbeschäftigung der ganzen Familie geworden zu sein. Im Wohnzimmer herrschte nicht mehr die strenge Ordnung, die man sonst gewohnt war, und wenn man des Morgens zum Besuche kam, konnte man auf einem Tisch zwei bis drei besonders kleine Häubchen in ein altes Zeitungspapier sorgfältig eingewickelt liegen sehen, – sie waren ein klein wenig größer, als wenn sie für eine mittelmäßig große Puppe bestimmt gewesen wären, und mit einem kleinen Stückchen Band verziert, das in der Gestalt eines Hufeisens hinten hinunterhing; vielleicht bemerkte man auch ein weißes Kleidchen nicht sehr groß im Umfange, aber von unverhältnißmäßiger Länge mit einem Spitzenbesatze, der oben rings herumlief, unten aber mit einer Stickerei garnirt war; ja, als wir einst hinkamen, wurden wir sogar eines großen weißen Wickelbandes mit bläulichem Seitenrande ansichtig, dessen Nutzen wir nicht zu ermitteln vermochten. Ferner glaubten wir die Bemerkung zu machen, daß Herr Dowson, der Wundarzt u. s. w., welcher vor seinem Hause an der Ecke der Reihe eine große Laterne, deren jede Scheibe aus anders gefärbtem Glas besteht, ausgehängt hat, öfters als gewöhnlich bei Nacht herausgeklopft wurde; und einst wurden wir noch mehr beunruhigt, als Morgens um halb drei Uhr eine Miethkutsche vor Herrn Robinsons Hausthüre vorfuhr, aus welcher eine dicke alte Frau in Mantel und Nachthaube, mit einem Packete in der einen und einem Paar Ueberschuhen in der andern Hand herausstieg; eine Person, die ganz so aussah, als wenn sie plötzlich zu einem besondern Zwecke aus dem Bette geholt worden wäre.

      Als wir am andern Morgen hinkamen, sahen wir den Thürklopfer der Miß Willis mit einem alten weißen Lederhandschuh umwickelt, und dachten in unserer Unschuld (wir leben nämlich im Junggesellenstande), was in aller Welt das wohl zu bedeuten haben möge, bis wir die älteste Miß Willis in eigener Person mit großer Feierlichkeit als Antwort auf die zunächst erfolgende Erkundigung sagen hörten: »Meine Empfehlung und Mrs. Robinson befände sich so wohl, als es die Umstände erwarten ließen, und das kleine Mädchen nehme wunderbar zu.« Hiermit war auf ein Mal unsere Neugierde sowohl als die der ganzen Reihe befriedigt, und wir fingen nun an, uns zu wundern, daß uns bis daher die wahre Ursache gar nicht eingefallen war.

      Viertes Kapitel

      Die Kirchspieldieners-Wahl.

      Ein großes Ereigniß hat sich unlängst in unserem Kirchspiel zugetragen. Ein Streit von höchster Wichtigkeit ist soeben beendigt worden; eine Parochial-Erschütterung hat stattgefunden, auf die ein glorreicher Triumph gefolgt ist, dessen sich das Land – oder wenigstens das Kirchspiel, was wohl dasselbe ist – noch lange erinnern wird. Wir haben eine Wahl gehabt – die Wahl eines Kirchspieldieners. Die Vertheidiger des alten Kirchspieldiener-Systems sind auf das Haupt geschlagen worden, und die Kämpfer für die großen neuen Kirchspieldieners-Prinzipien haben einen stolzen Sieg errungen.

      Unser Kirchspiel – das wie alle andern Kirchspiele eine kleine Welt für sich bildet – war seit langer Zeit in zwei Parteien getheilt, deren Streitigkeiten, wenn sie auch eine Weile schlummerten, unfehlbar bei der nächsten besten Veranlassung, wo sich die Möglichkeit einer Erneuerung zeigte, mit unverminderter Heftigkeit wieder ausbrachen. Nachtwächter-, Beleuchtungs-, Pflaster-, Wasserleitungs-, Kirchen-, Armen-Steuern, – kurz alle Arten von Steuern, wie sie heißen mochten, sind der Reihe nach Gegenstände großer Umtriebe gewesen; und was dafür gethan wurde, sie in Schutz zu nehmen, wie auch die Heftigkeit und Entschlossenheit, womit man sie bekämpfte, so oft irgend ein Amt neu zu besetzen war, ist kaum zu glauben.

      Der Vorkämpfer der Beamtenpartei – der unerschütterliche Fürsprecher der Kirchenvorsteher, die unbeugsame Stütze der Aufseher – ist ein alter Herr, der in unserer Reihe wohnt. Er besitzt ungefähr ein halbes Dutzend Häuser darin, und geht stets auf der entgegengesetzten Seite der Straße, um immer sein ganzes Eigenthum mit einem Blicke überschauen zu können. Er ist eine große, hagere, klapperdürre Figur mit einer wahren Spürnase und kleinen, stets beweglichen, neugierigen Aeuglein, die ihm die Natur blos zu dem Zwecke gegeben zu haben scheint, um damit in anderer Leute Angelegenheiten hineinzugucken. Er ist von der Wichtigkeit unserer Kirchspiel-Angelegenheiten tief eingenommen, und bildet sich nicht wenig auf seine Vorträge in unseren Kirchspiel-Versammlungen ein. Seine Ansichten sind eher beschränkt, als großartig; seine Grundsätze eher engherzig, als liberal. Man hat ihn sehr laut zu Gunsten der Preßfreiheit, und der Aufhebung des Zeitungstempels sprechen hören, weil die jetzt bestehenden Zeitungen, welche das Monopol der Oeffentlichkeit haben, nie die Debatten der Kirchspiels-Versammlungen