Er spürte, wie Vynsus Augen über sein Profil glitten. »Was meinst du?«
»Wie lange waren wir dort?«, fragte er befürchtend und wandte Vynsu wieder das Gesicht zu. »Im Dschungel.«
Vynsu ließ sich mit seiner Antwort Zeit. »Ihr wart bereits fünf Jahre fort, als der Großkönig beschloss, dass wir euch zurückholen, doch an der Ruine wart ihr nicht mehr, da begann die große Suche im Dschungel.« Er machte eine kurze Pause und starrte dabei seine Stiefelspitzen an. »Seit zwei Jahren verfolgen wir euch.«
Desith runzelte die Stirn.
»Sieben Jahre«, schloss Vynsu ab. »Du warst sieben Jahre im Dschungel, Desith.«
Kapitel 8
»Wo willst du hin?«
Jori kam ihm entgegen, als er die Zeltreihen verließ und auf den Unterstand der Pferde zusteuerte. Er ging langsamer, als er seinen Freund erkannte.
»Ich habe Hekkli heute Morgen schon gestriegelt«, fuhr Jori fort. »Du musst dich wieder mehr um ihn kümmern, er braucht Bewegung.«
»Das hatte ich gerade vor«, Vynsu ging weiter. »Kommst du mit?«
Jori schüttelte den Kopf. »Vala und ich haben bereits einen Ausritt unternommen, die Raubtiere im Wald machen die Pferde nervös, pass auf dich auf. Ich muss jetzt Bragi suchen.« Er deutete mit dem Daumen über die Schulter und rollte mit den Augen. »Er macht sich beim Kartenspiel Schulden und hat sich hinreißen lassen, bei einem Kampf mitzumachen. Der Gewinner bekommt einen Sack voll Silber, ich fürchte nur, unser kleiner Dieb bekommt nicht mehr als ein blaues Auge.«
Vynsu schüttelte den Kopf. »Das ist nicht dein Problem, Jori.« Du kannst nicht jeden Straßenköter retten, wollte er noch hinzufügen, verkniff es sich aber. Es war sinnlos, jemandem wie Jori zu sagen, er solle sich nicht um seine Männer kümmern.
Jori zuckte verlegen mit den Schultern. »Er ist jetzt einer von uns, wir passen aufeinander auf.« Er zwinkerte Vynsu zu und drehte sich dann um, verschwand zwischen den im Wind flackerten Planen der Zelte.
Vynsu blickte ihm nachdenklich hinterher. Er ist jetzt einer von uns, wir passen aufeinander auf. So etwas Ähnliches hatte Derrick zu ihm damals über Desith gesagt, dass er jetzt, mit dem Schwur an Melecay, zu ihnen gehöre, auch ein Barbar war, und dass er ihn als Bruder ansehen sollte. Vynsu versuchte es, aber Desith machte es ihm nicht leicht, indem er sich vor ihm verschloss. Er schnaubte und schüttelte die Gedanken ab. Er ist jetzt einer von uns.
Dann drehte auch er sich um und suchte seinen Rotfuchs aus der Reihe der Pferde heraus. Der Hengst schnaubte und scharrte mit den Hufen, als Vynsu ihn aufzäumte und sattelte.
»Ist ja gut, mein Junge, gleich kannst du rennen.«
Hekkli – der eigentlich den stolzen Namen Hekkilston trug – tänzelte bereits ungeduldig auf der Stelle, als Vynsu vor den Palisaden aufsaß. Er brauchte seinem Hengst nicht in die Flanke zu tippen, er sprintete los, sobald Vynsu die Zügel etwas lockerte.
Die Reisfelder waren feucht, mehr Sumpf als Land, Wasser peitschte auf, als er über sie galoppierte, die Gräser raschelten und allerlei Vögel stoben auf und flogen klagend davon.
Der Himmel war klar, die Luft feucht und heiß, Vynsu genoss den Wind auf dem Gesicht, während er Hekkli über die Felder in Richtung der Silhouette der Stadt im Westen trieb. Weder geriet er in Reichweite der Sichtbarkeit der Türme, noch ließ er sein Reittier wie eine leckere Versuchung für die Jaguare an den riesigen Baumreihen des Regenwaldes entlang traben, er hielt sich auf und zwischen dem Reis auf, zügelte sein Pferd, als er an kleinen Gehöften vorbeikam, nickte freundlich den spitzohrigen Bauern zu und versuchte, die Ruhe und die Zweisamkeit mit seinem Pferd zu genießen.
Allmählich war ihm in Desiths Zelt die Decke auf den Kopf gefallen, und wenn es ihm bereits so erging, wollte er sich nicht ausmalen, wie schrecklich langweilig Desith sein musste.
Seit er vor drei Tagen das erste Mal richtig erwacht war und sie sich hatten unterhalten können, gesundete er regelrecht von Atemzug zu Atemzug, Vynsu konnte quasi dabei zusehen, wie die Wunden verheilten. Die Brandnarben würde er allerdings behalten und er glaubte zu spüren, dass Desith damit nicht gut zurechtkam. Ob es daran lag, dass seine halbe Brust und sein Arm samt Schulter entstellt waren und er sich nicht mehr schön vorkam, oder schlicht an der Erinnerung, dass er diese Verletzung Derrick zu verdanken hatte, wusste Vynsu nicht und er war nicht vertraut genug mit Desith, um ihn so etwas Tiefreichendes zu fragen.
Jedenfalls hatten sie nicht mehr über Derrick gesprochen, Desith weigerte sich. Er wollte nur heim, wollte aufstehen, kämpfte gegen seine Schwäche und gesundete scheinbar durch reinen Trotz.
Er fragte nach seiner Schwester, aber Vynsu konnte es ihm nicht sagen, nicht jetzt, da er gerade erst auf dem Weg der Besserung war. Er … er wollte noch nicht Desiths Vertrauen verlieren, denn noch war er dessen Bewacher.
Aber dies würde sich bald ändern. Vynsu zügelte Hekkli auf einem sanften Hügel, der Hengst schnaubte angestrengt, seine Muskeln zuckten und das Fell unter dem Sattel war verschwitzt, trotzdem ließ sein Bewegungsdrang ihn noch immer ungeduldig tänzeln.
»Bald geht es nach Hause«, versicherte er dem Rotfuchs und beugte sich über den kräftigen Hals, um mit der Pranke lobend darüber zu fahren. »Dann wird alles wieder wie früher.«
Nun ja, fast alles.
Seufzend blickte er gen Zadest, die Dschungelwand wirkte dunkel und bedrohlich, wie sie sich im Osten auftat und eine Mauer vor Elkanasai zog. Am Abend zuvor war ein Bote ins Lager gestürmt und hatte Vynsu und seiner Mutter mitgeteilt, dass Melecay auf dem Weg hier her war. Und er brachte Derrick mit.
*~*~*
Wenn er nicht bald dieses verdammte Zelt verlassen durfte, würde er aus Frustration anfangen, für jeden weiteren sinnlos vergeudeten Tag eine Wunde in seinen Arm zu ritzen. Da fiel ihm jedoch heiß ein, dass er keine Waffen mehr besaß und verdächtiger Weise auch keine spitzen oder scharfen Gegenstände im Zelt herumlagen.
Desith saß auf der Kante seiner Liege, nachdem er sich wie auch schon in den vielen Tagen zuvor, die Beine ein wenig vertreten hatte, indem er vor seinem Lager auf und ab gewandert war. Seit etwas mehr als einer Woche konnte er aufstehen, anfangs nur für kurze Zeit, aber nachdem er wieder feste Nahrung zu sich nehmen konnte, war er von Tag zu Tag kräftiger geworden.
Eigentlich stand seiner Heimreise nichts mehr im Wege, er wollte zu seiner Familie, wollte sich allem entziehen, was ihn an Derrick erinnerte.
Zwei Jahre… So lange hatte Vynsu gesagt, hätten sie nach ihnen gesucht. Zwei Jahre, die sie vom Turm entfernt durch den Dschungel gestreift waren. Zwei Jahre, die er Rick verfolgt hatte. So lange war dieser bereits ein Drache.
Er würde nicht zurückkommen, er würde sich nicht zurückverwandeln. Er wollte nicht.
Desith blickte hinab auf seine Hände, er hatte sie nervös aneinander gerieben, sein Bein wippte. Er hatte den Drang, zu laufen, wenn nötig sogar zu Fuß bis in die Hauptstadt des Kaiserreichs, wenn Vynsu sein Versprechen nicht endlich einhielt.
Er wusste nicht, wie es nun weiter gehen sollte. Seit er als Kind Rick begegnet war und sie sich verliebt hatten, hatte es für Desith nur eine Zukunft in Carapuhr gegeben. Er hatte sich schon unter den Barbaren gesehen, er hatte schon den kalten Wind geschmeckt. Doch was sollte er noch dort ohne Rick. Einsam und allein durch den Schnee stapfen?
Er hatte zwei Jahre allein im Dschungel verbracht, und so sehr er auch die hohen Mauern und überfüllten Städte des Kaiserreichs verabscheut hatte, gerade vermisste er ihre Vertrautheit.
Zwei Jahre…
Desith drehte die Handflächen nach oben und strich abwechselnd mit dem Daumen über die Narben, die über seinen blau schimmernden Adern entlangführten.
Er