Wieder ein Fernbahnhof. Umsteigeplatz. Die Koffer aus Farbe, Fiber und Pappe schleppten sich von Gleis vier nach Gleis neun. Leichtfüßige Mädchen, hochgehackt, hochtoupiert. Junge Männer, röhrenhosig, cäsarenköpfig. Alte Ehepaare, reisewütig. Arbeiter, Angestellte, eilend, hastend. Heilsarmisten, singend, sammelnd. Bahnbeamte, wichtig tuend, von Fahrplänen und Fahrzeiten, Ankünften und Abfahrten redend. Am neonbewehrten Imbissstand aß Meiler eine Wurst, lauwarm, teuer.
Der nächste Zug, ein Eilzug, ratterte ihn der Küste näher. Warm gedeckte Bauernhäuser. Weiß gedeckte Wiesen. Lichternde Lichter. Weißbesprenkelte Hänge. Kleinstadtbahnhöfe. Dorfstationen. Wiesen und Knicks. Es waren nur vier ganze peoples und Meiler, die um Mitternacht am Endbahnhof aus dem Zuge krabbelten. Der Ost hatte auch hier an der Küste seine Messer geschliffen. Im Wartesaal war es warm und leer. Hier wartete Meiler auf ein Taxi. Der Bierhahn stammte aus dem vorigen Jahrhundert. Eine Biersäule blitzte blank und schnörkelte in grün-weißem Porzellan. War nur eine Attrappe, denn es gab Flaschenbier. Der Wirt sparte mit Licht und sah aus wie ein Hobbyist, Briefmarkensammler, Taubenzüchter oder so. Das Taxi kam. Der Fahrer roch nach Schnaps, er wurde durch Meiler in einer Geburtstagsfeier gestört. Die kleine Stadt schläft. Es schläft auch das Licht. Die Bürger liegen mit ihren Frauen in warmen Betten. Durch die Gassen schneidet der Ost. Da und dort ein Fensterlicht, blank oder hinter Gardinen. Ein krankes Kind? Ein Sterbender? Eine Liebesstunde? Wer weiß!
An der Bunkerstation lag das Schiff. Eine Eisburg. Decklast: Holz. Begossen und emailliert. Glasur des Winters. Eine gefährliche Glasur. Todesschlitten. Auf- und Niedergänge, Relinge, Verschanzungen trugen Eisbärte. Wanten, Antennen, Stagen, Drähte, Tampen, Reeps und Festmacher waren in Eis gepackt, als hätte man sie durch Zuckerguss gezogen. Gleißende, brennende Augen der Bogenlampen. Unheimlich glitzernde, funkelnde Eisburg Schiff. Von der Bunkerstation zum Schiff windet sich durch die Schneewatte eine tiefschwarze Schlauchschlange, eben atmend. Die Eisburg säuft das kalte Blut der Schlange. Vermummte Männer an Deck, fast in Lumpen, über Eisglasspiegel balancierend. Flüche, Geschimpfe. Arschloch. Idiot. Blödmann. Albernes Gelächter. Eine vereiste Leiter sprosst sich an Deck. Die Koffer schaffen es und sind jetzt in einer angemessen Umgebung, passen nun wie ein Maßanzug. Das Schiff frisst Meiler. Der Bierhahn war nur eine Attrappe. Das ganze Leben ist eine Attrappe. Das Schiff, das Holz, das Eis, alles ist nur Attrappe. Alles ist morgen tot, ist morgen nicht mehr. Alles stirbt, ist immer am Sterben. Alles Geborene, Gewordene, Bestehende stirbt schon bei seiner Entstehung... ist Attrappe. Nur die Menschen meinen, sie seien keine Attrappen, keine Schaupackungen. In der Winternacht verschwand das rote Schlusslicht des Taxis, und ihn fraß ein Schiff mit Koffern, mit seinem ganzen Besitz. Meiler wurde von Augenpaaren scharf und hart und schnell gemustert, von Vermummten in Pelz und Pudelmützen, von Gestalten in Lumpen und Latschen. Leise und dünn fragte Meiler, wo wohl der Kapitän anzutreffen sei. Im Salon, wurde ihm geantwortet. Stets schüchtern fragen, niemals aufdringlich, arrogant, anfeindend. Sich selbst ein bisschen schwächlich machen, verkleinern, verleitet den anderen dazu, zu fühlen oder als bereitwilliger Helfer aufzutreten, wenn nicht sogar Mitleid zu empfinden. Im Salon gern etwas forscher auftreten, damit reiht man sich selbst gleich ein. Oh, auf Schiffen kannte Meiler sich aus, da machte ihm niemand etwas vor, das ist anders als an Land oder im Fernzug, ganz bestimmt. Die Tür vom Salon stand auf. In einem Stuhl hing lederjackig und breitschulterig ein Wasserschutzpolizist. Wichtig schrieb der Maklerclerk in seinen Papieren, und der dritte, das war der Kapitän. Meiler klopfte an die offene Tür und trat gleich ein. „Mein Name ist Meiler, Meiler Melchior, ich bin der neue Dritte Ingenieur.“ Der Kapitän stand auf und gab Meiler schnell und hastig die Hand, sagte lispelnd und leise seinen Namen, Rischer oder so ähnlich. Mein Gott, dachte Meiler, ist das eine nervöse Nudel, der Alte. Seine Augen flatterten und flogen wie Kolibriflügel. Die Hände zitterten, wie die eines Berufsonanisten, als der Alte Meilers Seefahrtsbuch entgegennahm. Die üblichen Fragen lispelnd, belanglose Bemerkungen machend: Funker schläft schon! Funker schläft viel! Sprungfederhaft hopste ein Kanarienvogel in seinem Käfig auf und ab. Der Lispeler wandte sich von Meiler ab. Holzauf, holzab hopste der Vogel und piepste. „Ja, mein Murki, jaja... ßoviel Aufregung für dich... gehst gleich ßlafen, nicht? Nicht, mein Murki? Sind ßuviele Menschen hier, nicht, mein Murki? Ja, ja!“ Meiler kam es vor, als bedaure der Alte sich selbst. „Schönes Tier!“ sagte der Polizist und spekulierte auf den nächsten Schnaps. „Ja, ein schöner Vogel“, meinte der Clerk, „singt er auch?“ Der Clerk musste ja auch was sagen. „Und wie!“ sagte der Alte. „Nicht, mein Murki, nicht, du ßingst doch ßön, nicht?“ Scheiß auf deinen Murki, dachte Meiler, sag mir lieber, wie das nun weitergeht. Von Murki zu Meiler. „Melden Szie ßich beim Ersten Ingenieur, er wohnt ein Deck tiefer.“ Erster Ingenieur, wie sich das anhört. Wer schimpft sich bei der Seefahrt nicht alles Ingenieur? Oberhalb der Kammertür sind wohl kleine Schildchen angebracht, beschriftet: I. Ing., II. Ing., III. und IV. Ing. Das steht da wohl, aber sind es auch Ingenieure, die in diesen Kammern wohnen? Selten genug, meistens sind es Seemaschinisten. Das hat der Reeder geschickt gemacht und dabei gut spekuliert, denn welcher Schlossergeselle mit ein oder zwei Semestern Technikumausbildung lässt sich nicht gern als Ingenieur bezeichnen? Gib den Menschen einen Titel und dafür weniger Gehalt.
So, immer dem Geräusch und dem Geruch der Maschine nach, arbeitete sich Meiler mit einem Koffer den steilen Niedergang zum nächsten Deck hinunter. Dort lagen die Ingenieurskammern. Weiß Gott, möglichst kurze Wegstrecke von der Kammer zur Arbeitsstätte, zum Maschinenraum. Das ist auch ein Prinzip. Am liebsten würden die Reeder ja doch sehen, dass das Maschinen-Personal seine Kojen im Maschinenraum aufschlagen würde. Es ist ja auch jammerschade um den vergeudeten Raum für Wohnzwecke, wie gut könnte man noch den Laderaum vergrößern und somit mehr Ladung mitnehmen. Wie würde sich doch der Profit steigern. Motorengeräusche. Dumpfe Wärme. Stickige, verbrauchte Luft kroch durch den Betriebsgang, den Meiler ging, um zur Kammer des „Ersten“ zu gelangen. Die Wände waren verdreckt wie öffentliche Bedürfnisanstalten. Licht, so müde wie Kinderaugen. Meiler meldete sich beim Ersten Ingenieur, an Bord Chief genannt. Vor ihm stand ein kleines mickeriges Männchen, Meiler überragte es um einen Kopf. Hängeschultrig, hornbebrillt. Seine starken Augenbrauen tanzten über den dicken Brillengläsern einen Boogie, und die Hände spielten fingerig mit einem verschmierten Putzlappen. Meiler stand groß und breit in der Tür. „Ihre Kammer ist drüben auf der Backbordseite. Ziehen sie sich man gleich um, Sie müssen gleich auf Wache, der Zweite Ingenieur ist besoffen!“ Er sagte tatsächlich Zweiter Ingenieur. Nette Aussichten für Meiler, gleich Wache zu gehen, also mit dem Schlafen schon Scheiße. Ja, klein war der Chief, so klein. Klein geworden durch den Maschinenlärm. Kleingemacht durch die Aufregungen und die Arbeit. Kleingehalten durch die vitaminarme Kost. Konserven. Konserven... Futterkartoffeln abzugeben, an Mästereien und Reedereien. Für Schiffsgebrauch noch gut genug. Kleingehalten durch den Kapitän: ...dann muss ich das der Reederei berichten… Kleingehalten durch die Reedereischreiben: ...uns ist es unverständlich, dass Sie... und so weiter. Besonders klein gehalten durch die Drohungen der Handlanger des Reeders: ... und wenn es Ihr Gesundheitszustand nicht zulässt, dann tut es uns leid, dann müssen Sie… und so weiter. Klein wird er immer bleiben, der Chief. Und nach seiner Pensionierung noch kleiner