Kurz grüßend, abwesend und schon vorwesend, ging Meiler an der Blondine im Glaskasten vorüber und trat aus der Wärme des Reedereigebäudes in den kalten Januartag. Mit Hassaugen sah Meiler auf die Schiffe, die vertäut an der Pier lagen. Morgen, ja, ja, morgen. Scheiße! Aber noch ist heute, noch eine Nacht mit Mira. Die Nacht, die letzte Nacht mit Mira. Wohl eine Nacht mit Höhen und Tiefen, mit Gipfeln und Tälern. Eine Nacht, die schon mit Vorschau auf Schiff und Wasser und Weite geschwängert sein wird, die schon den Lärm der Maschinen und Motoren in sich trägt und das Jaulen der Pumpen, das Singen der Generatoren und Heulen der Turbinen.
Und sie trägt weiter in sich das Wissen um den Alltag, um die Trennung, um die Probleme und was es auch immer sei, was den Menschen rüttelt, bewegt, anspricht, so zwei Menschen, Mann und Frau, die sich trennen müssen. Menschen, die sich dann eine Zeitspanne nicht sehen und fühlen. Wieso aber die letzte Nacht? Es gibt keine letzte Nacht, außer der letzten Nacht vor dem Tod, worauf die endgültig letzte Nacht folgt.
Meiler hatte seinen Mantelkragen hochgeschlagen, als wolle er sich einkapseln, isolieren. Meiler ging am Zollposten vorüber. „Nichts dabei!“ Meiler. „Danke!“ Der Zöllner. Da, eine Telefonzelle, innen verkippt und vermatscht. Die Vermittlung im Krankenhaus meldete sich. „Kann ich Schwester Mira sprechen?“ – „Einen Moment, verbinde zur Männerstation!“ „Du, Mira, morgen geht’s los!“ – „Ach, morgen schon?“ – „Ja, leider... morgen früh... aber nur für eine Reise!“ – „Wie lange dauert die Reise, Mel?“ – „Ja, wie lange dauern Reisen? ... Och, nicht lange, Mira, ich mache nur eine Vertretung!“ – „Wann sehen wir uns, Mel, Liebling? Ich komme um fünf von der Station!“ – „Dann komm zu mir für die letzte Nacht! Sieh, ich muss noch packen und habe sonst noch allerhand zu tun. Im Schwesternheim ist zuviel Rummel, dort bist du mir zu kabbelig. Du kannst mich ja morgen früh zur Bahn bringen, wenn du willst. Ist es dir so recht, Mira? Kleines, liebes Mädchen, du!“ – „Ach ja, mir ist alles recht. Morgen, morgen, gäbe es doch nur kein Morgen, Mel!“
Nun hat der Abend seine Augen aufgetan. Die Ruhe in der Winternacht ist wie ein dunkler Vorhang, dahinter quälen oder beglücken sich Menschen. Alle Konturen sind verwischt. Nicht aber die Konturen von Miras Gedanken, auf ihnen zeichnet sich die Landschaft seines Gesichtes, das wie die See ist, lebendig, stürmisch bewegt und manchmal zerrissen. Und nur manchmal, so sein Gesicht ganz still ist, spricht aus dem Innern die See. Dabei kennt sie die See nicht, aber sie versteht die Sprache so gut, und sie findet sich darin zurecht. In dreimonatigem Zusammensein, in dreimal dreißig Nächten hat sie die Sprache der See erlernt… „Du, deinen Schlafanzug habe ich nicht mitgebracht, er bleibt in meinem Zimmer im Schwesternheim... so habe ich noch etwas von dir!“
Die Weggefährten auf dieser Nachtstrecke wirken zunächst nichtssagend, da aber auch das Nichts etwas aussagt, sagten auch die Nichtssagenden etwas aus - alles aus. Zusammengekuschelt und zusammengeglückt liegen sie auf der geflachten Schlafcouch, ohne Bewegung, nur in der Bewegung ihres Atems, ihres Herzschlages, der von Hand zu Hand leise pocht und pulst. Von der Straße her kriechen weiter Geräusche, die sie berühren. Der Warnruf eines Wintervogels. Das Gekreisch eines Gatters. Der Fall einer zuschlagenden Tür. Der Start eines Kraftwagens.
Und Melchior Meiler richtete sich auf, werbend umflüsterte er ihr Gesicht. Umfasste zärtlich ihre nackten Schultern, zeichnete ihre Augenbögen, ihre Ohrmuscheln mit seinen Fingernerven. Vier Augen hielten einander fest und dunkle glitzernde Sonnen sprühten, versprühten Lust und Zärtlichkeit. Sie sahen und hörten und spürten nicht mehr die Nacht, die kalte und helle und geräuscharme, sahen, hörten und spürten nur sich. Sahen die Lust in dem anderen, so unbekümmert wie die Natur, rein und schön. Ein feines Sirren steigt auf, es ist der Sekt, der zart das geschliffene Glas harft. Sie umarmen sich noch einmal, liegen Leib an Leib, Mund in Mund. Augen in Augen. Versunken, vertieft... ineinander. Eingekapselt im Abschiedsschmerz, dann einsam, verloren. Und doch bot der Herold des Abschieds abschneidend Liebe und Freude und Schmerzesstunde, bot er Wärme und eine unausgesprochene Aussage ihr beider Innern. Mira war wie eingeschlossen in einem Traum, in dem sie hätte eingeschlossen sein mögen für immer. Niemals mehr auftauchen. Niemals mehr denken müssen an das Gewesene, an das Kommende... nie mehr an morgen. Ob er wohl im Abschnitt des Abschieds etwas von allem, was in ihr war oder ist oder sein wird, spürt oder gespürt hat? Oder ist sie allein in ihrem Denken und Fühlen? Einen Augenblick glaubte sie es nicht zu sein. Es war der Augenblick. War es eine Illusion? Gott, was weiß man schon in Wirklichkeit von dem anderen? Man legt Gutes oder Schlechtes in einen Menschen hinein und weiß nichts von dem, was wirklich in ihm ist. Vielleicht darum, weil man stets sich selbst in den anderen hineinlegt und glaubt, sich selbst im anderen zu begegnen. Selbst Menschen, die sich sehr nahe sind, begegnen sich in ihrem Innern nur selten. Aber dass sie sich manchmal begegnen im Zentrum ihres Soseins, im Mittelpunkt ihres Fühlens, im Zenit ihrer Erfüllung, so glaubt Mira, das sei der Liebe höchste Form... der so vielen Arten der Liebe. Nur Stunden der Nacht bleiben ihnen, knappe, karge Stunden, die auch ein wenig das Gesicht des Schlafes tragen müssen. Alles Ungesagte sollte gesagt werden, alles Ungesagte der verflossenen Monate. Alles Ungesagte wurde nicht gesagt. Menschen wollen das aber immer. Menschen wollen anders sein als in Briefen. Menschen wollen im Abschied, in der Trennungsspanne nachholen, wollen überholen, verbessern, ja, das wollen die Menschen. Tun sie es? Das dunkle Tuch der Trennung, der schwarze Schleier des Scheidens lässt Gedanken und Worte in Höhlen und Irrgärten der Hirne. Gedanken und Worte nähern sich nur wie Tropfsteine und berühren sich nur manchmal, wie es Tropfsteine auch nur manchmal tun. Ist es in einem Irrgarten anders? Die Gedanken eilen voraus, eilen in Maschinenräume und Operationssäle und an Seziertische. Hängen in Schiffsbetriebsgängen und auf Männerstationen. Sind und verweilen bei kranken Maschinen und bei kranken Menschen.
Kapitel 2
Frostklarer Tag. Die Kälte knackt wie Krakauer Wurst. Quirlend flockt Weiß aus grauem Himmelstopf. Schnee knarrt und stöhnt unter Fußtritten. Vorortbahn. Ein Mädchen, sein, Meilers Mädchen, blieb zurück. Winkte und winkte, bis auch das Tuch eine Flocke war. Schön waren die Tage bei ihr, und noch schöner die Nächte, ja, die Nächte. Verflucht, die Nächte waren gut. Scheiße, jetzt nicht dran denken, bin sowieso leer wie meine Brieftasche. Nicht dran denken. Kann man auf See machen, wo man zum Nachdenken Zeit hat, auf langen Wachen und so. Dann kann man sich die Beine und Brüste und Mund und Augen wieder herbeiholen. Dann hat man auch was davon, und man kann was davon machen, so man keinen Hafen und keine Frauen hat. Aber jetzt, nee!
Weißwattige Rauchballen liegen auf nadelspitzen Industrieschornsteinen. Glühend brennt ein Feuer ein rotes Loch in das Schneegrau des Himmels: die Abgasflamme einer Ölraffinerie. Melchior Meilers fadenscheinige Koffer aus Fiber, Farbe und Pappe stachen im zermatschten Schnee des Abteils. Ein Zuchthaus gleitet vorüber, und in den Zellen brennt Licht. Schmutziggelbe Fleckenquadrate im Ziegeldunkel der Steine. Schmutziggelbe Flecken, von schwarzer Gitterschrift aufgeteilt. Schachbrettmuster der Unfreiheit. Die Zuchthauskapelle aber hat keine Flecken, morgens geht noch keiner beten. Die haben es gut, die da im Knast, haben zu essen, sind im Warmen und brauchen nicht zur See zu fahren. Vor Meiler, gegenüber, pult sich eine kopfbetuchte Frau in der Nase. Derjenige, der den Knetgummi erfunden hat, oder derjenige, der die Plastikbombe erdacht hat, hat bestimmt mit Nasenpopeln angefangen. Hat die Popel mit spitzen Fingern und bohrenden Nägeln aus der Nase geholt und die grünschwarzen Dingerchen