Pechschwarzer Sand. Liv-Malin Winter. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Liv-Malin Winter
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742735836
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Während sie sich begeistert ans Auspacken machte, begaben sich Eric und Chris mit Fahrrad und einem Fahrradanhänger noch einmal zum Laden zurück, um das Babybett zu holen. Sie luden das Bettchen wie es war auf den Anhänger. Da das Bett für Erics kleinen Fahrradanhänger zu groß war, musste Chris es halten, während Eric das Fahrrad schob. Die neugierigen Blicke der Passanten folgten ihnen und als sie mit ihrem Gefährt ein Straßencafé durchquerten, das auf beiden Seiten des Wegs seine Tische aufgestellt hatte, war ihnen die Aufmerksamkeit aller sicher.

      3. Paradies und Hölle

      In den nächsten Tagen arbeitete Eric unablässig am Auftrag von Retramo. Das Unternehmen litt immer wieder unter Engpässen bei der Rohstoffbeschaffung. Eric sah die Lösung dieses Problems darin, recycelte Baumwolle für die Produktion zu verwenden. Die Leute brachten ihre alten, abgetragenen Sachen zu einer Sammelstelle und erhielten etwas Geld dafür. So hatten sie einen Ansporn, der Textilfirma ihre alten Kleider zurückzugeben. Für das Unternehmen war dieses Vorgehen billiger als neue Baumwolle zu importieren. Erics Aufgabe war es, die Logistik für die Firma aufzubauen. Er musste Annahmestellen einrichten, die für die Kunden einfach zu erreichen waren. Die alten Kleider mussten von diesen Annahmestellen zu den Produktionshallen des Unternehmens transportiert werden. Die Organisation dieses Systems bedeutete viel Arbeit. Eric konnte die Hilfe seines Freundes Chris gut gebrauchen.

      Babygeschrei riss Eric aus seiner Konzentration. Er stand auf und öffnete die Tür. Chris ging mit seiner Tochter im Flur auf und ab. Er erzählte etwas, doch das Schreien des Babys übertönte seine Stimme.

      »Hey, was fehlt dir denn, Kleines?«

      »Haben wir dich gestört?«, fragte Chris entschuldigend. »Ich versuche sie schon die ganze Zeit zu beruhigen, aber es klappt einfach nicht.«

      »Tja, die Kleine braucht ihre Mami.«

      »Rena ist so müde, sie muss sich mal eine Weile ausruhen. Deshalb habe ich Melissa genommen.«

      »Du siehst aber auch nicht gerade frisch aus. Dir würde ein bisschen Schlaf ebenfalls gut tun. Gib sie mir mal«, forderte Eric seinen Freund auf und streckte ihm die Arme entgegen, um das Baby in Empfang zu nehmen. »Und jetzt hol mir ein getragenes T-Shirt von Rena.«

      Chris kam Erics Aufforderung verwundert nach. Eric ging in die Küche, breitete das T-Shirt auf dem Tisch aus und wickelte das Baby darin ein.

      »So, hier hast du deine Mami«, sagte er zu Melissa.

      Nachdem er einige Minuten mit ihr in der Küche auf und ab gegangen war, beruhigte sich das Baby.

      »Wo hast du denn diesen Trick her?«, fragte Chris erstaunt.

      »Kurz nachdem meine kleine Cousine geboren wurde, habe ich meinen Onkel und meine Tante besucht. Ich wollte die Kleine so gerne mal halten, aber sie wollte nur bei ihrer Mama sein. Da hat meine Tante sie in eins ihrer T-Shirts gewickelt. Die Kleine hatte den vertrauten Geruch ihrer Mutter und war zufrieden. «

      »Waren das deine Verwandten in Norwegen?«

      »Ja«, bestätigte Eric.

      »Ich habe dich schon immer um das gute Verhältnis zu deiner Familie beneidet. Ich wünschte, ich hätte auch so eine Familie.«

      »Hat sich das Verhältnis zu deinen Eltern immer noch nicht gebessert?«

      »Nein, mein Vater hat nie akzeptiert, dass ich nach Kanada gegangen bin, um Ranger zu werden. Die Hochzeit mit Rena hat alles noch schlimmer gemacht. Er fand es nicht akzeptabel, dass ich eine ›Indianerin‹ geheiratet habe. So hat er Rena genannt. Die ›Indianerin‹.«

      »Wahrscheinlich ist ihm durch die Hochzeit klar geworden, dass du nicht nach Deutschland zurückkommen willst, um in seine Fußstapfen zu treten.«

      »Wahrscheinlich. Aber man sollte doch meinen, dass der eigene Vater einem ein bisschen Glück gönnt. Wenigstens hat meine Mutter in all den Jahren zu mir gestanden. Sie wird sich freuen, Rena endlich kennen zu lernen und von ihrer kleinen Enkeltochter wird sie bestimmt ganz entzückt sein.«

      »Ja, das glaube ich auch. Ich wette, früher oder später lässt sich sogar dein Vater von Melissa um den Finger wickeln.«

      »Ich hoffe, du hast recht. Es wäre schön, mal wieder unser Haus zu sehen. Außerdem würde ich Rena gern zeigen, wo ich aufgewachsen bin. Zumindest hat mein Vater schon zum Teil seinen Willen bekommen, denn schließlich sind wir jetzt in Berlin, wenn auch nicht ganz freiwillig.«

      Chris gähnte herzhaft.

      »Ab ins Bett mit dir. Du hast ein bisschen Schlaf dringend nötig«, forderte Eric ihn auf.

      »Okay, gute Nacht.«

      Chris verschwand im Schlafzimmer und Eric ging mit Melissa in sein Büro. Er warf einen flüchtigen Blick auf die Notizen zu seinem Projekt, doch zum Arbeiten hatte er keine Lust mehr.

      »Wie wäre es, wenn wir uns zusammen Kanada ansehen?«, fragte er Melissa. Das Baby sah ihn aufmerksam an. »Ich glaube, das heißt ja«, stellte er fest und begann im Internet die schönsten Plätze von Kanada zu suchen.

      Sie sahen sich Bilder von Toronto an. Alte Gebäude waren von spiegelnden Wolkenkratzern umgeben und vereinten Vergangenheit und Gegenwart. Die Skyline von Vancouver faszinierte ihn mit ihren modernen Wolkenkratzern. Aber auch in Vancouver gab es historische Gebäude wie die Steam Clock, die das Stadtbild aus vergangenen Zeiten heraufbeschwor.

      »Aber deine Eltern kommen aus keiner dieser Städte, nicht wahr, Kleines?«, fragte Eric Melissa. »Sie kommen aus Alberta.«

      Alberta wurde beherrscht von atemberaubender Natur wie dem jadegrünen Lake Louise und dem wunderschönen türkisfarbenen Moraine Lake. In ihm befand sich eine kleine baumbestandene Insel namens Spirit Island. Glasklare sprudelnde Bäche ergossen sich und all diese Naturwunder waren eingebettet in hohe Berge mit eisblauen Gletschern. Dieses fantastische Naturparadies bot vielen Tieren einen Lebensraum. Schwarzbären, Wapitis, Wildgänse und Streifenhörnchen hatten hier ihre Heimat. Eric reizte es, in dieser wunderschönen Gegend zu wandern und sie in aller Ruhe zu entdecken.

      Als nächstes sah sich Eric das Gebiet an, in dem Ölsand abgebaut wurde.

      Es gab keinen Baum, kein Strauch, die ganze Landschaft war komplett verschwunden. Tiefe Löcher von gigantischem Ausmaß waren in die Erde gegraben worden. Abraumhalden türmten sich schwarz auf. Statt türkisblauer Seen gab es Tümpel, die mit dunkler Giftbrühe gefüllt waren. Inmitten dieser dunklen verwüsteten Landschaft lagen riesige Industrieanlagen, die ihre Abgase in den Himmel schickten und die Luft verpesteten.

      Eric sah fassungslos auf die Bilder. Er konnte nicht begreifen, dass diese beiden Gebiete in derselben Gegend lagen. Es war, als würde das Paradies direkt an die Hölle grenzen. Nachdenklich sah er zu dem Baby in seinem Arm. Nun konnte er die Wut, die Chris antrieb, besser nachvollziehen. Er verstand, warum Rena so viel riskiert hatte.

      Melissa war inzwischen eingeschlafen und Eric brachte sie leise in das Zimmer ihrer Eltern. Behutsam legte er sie in ihr Bettchen und schlich wieder hinaus. Er setzte sich an seinen Computer und begann zu recherchieren.

      Er erfuhr, dass sich der Ölsand unter der Erde befand und ausgebaggert wurde. Dabei wurde die komplette Landschaft zerstört. Bei Ölsand handelte es sich um Sandkörner, die von einer Schicht aus Wasser und Bitumen umgeben waren. Der Ölsand wurde mit heißem Wasser vermischt. Dann sanken die schweren Sandkörner zu Boden und das leichtere Bitumen schwamm an der Oberfläche. Im Upgrader, einer Aufbereitungsanlage, wurden die langen Kohlenstoffketten gespalten. Schwefel und Schwermetalle wurden entfernt und so wurde aus zähem Bitumen flüssiges Rohöl. Dieser Prozess verschlang immense Mengen an Wasser und Energie. Das verwendete Wasser reicherte sich immer stärker mit giftigen Chemikalien an und wurde nach der Verwendung in offene Becken geleitet. Dort stellte es eine Gefahr für die Umwelt dar.

      Betrieben wurden diese Anlagen von einer Firma namens ENTAL, ein milliardenschweres Unternehmen. ENTAL vertrat die Ansicht, dass die Umweltprobleme stark übertrieben wurden. Auf das Öl aus Kanada könne die Welt unmöglich verzichten. Außerdem werde ständig an