Vairrynn dagegen schaffte es, sich abseits von diesem Neoly-Kollektiv zu halten, ohne sich ganz von der Familie abzuschotten. Aus irgendeinem Grund wurde er in der neuen Schule nicht als ›Neoly‹ tituliert und auch nicht als ›Nembdr-Sohn‹ – obwohl natürlich selbst dem Begriffsstutzigsten klar sein musste, wer er war – sondern schlicht und einfach als ›der Nordler‹. Und so stand Vairrynn zwischen allen Fronten und schien’s zufrieden. Manchmal, wenn er darüber nachdachte, fragte sich Mudmal, ob das nicht das erste Anzeichen dafür war, dass Vairrynn begann, von der Familie wegzudriften. Doch er konnte es nie über sich bringen, den Schutz des Neoly’schen Bollwerks aufzugeben und sich zu seinem Bruder zu gesellen, und er bezweifelte auch, dass Vairrynn das von ihm erwartete. Dennoch war Mudmal fast erleichtert, als sein großer Bruder eineinhalb Jahre später die Schule abschloss und er seinerseits endlich das Gefühl los war, dass er sich eigentlich zwischen Vairrynn und dem Rest der Familie entscheiden hätte müssen.
Vairrynn selbst schüttelte den Staub der Schule von den Füßen, ohne sich umzusehen, verbrachte einen Gutteil seiner freien Zeit mit Ftonim und noch mehr mit Myn und begann einige Lchnattau später ein zweijähriges Studium an der Naturwissenschaftlichen Akademie Naharmbras. Jedermann war überrascht. Im Stillen hatte die Familie wohl erwartet, dass Vairrynn Naharmbra bei der ersten Gelegenheit den Rücken kehren und sich auf das Tygdul-Gut zurückziehen würde, das er von seinen leiblichen Eltern geerbt hatte. Mudmal, natürlich, kannte seinen Bruder besser. Doch Vairrynns Wahl überraschte ihn nichtsdestoweniger; warum sollte jemand, der Geschichte aufsog wie Regen und sich in fremden Sprachen zurechtfand, als sei er dort zu Hause, ein Studium der Naturwissenschaften wählen? Es war ihm ein Rätsel. Und noch etwas: Was immer auch der Grund für Vairrynns Entscheidung sein mochte – Mudmal, der stets der Meinung gewesen war, dass ihm sein Talent für alles Technische garantierte, zumindest in einem Bereich besser zu sein als sein großer Bruder, störte sich daran auf eine fundamentale Weise, über deren kleingeistige Natur er sich keine Illusionen machte. Vielleicht war das irgendwie, auf eine seltsam verquere Weise, die Mudmal selbst nicht ganz verstand, sogar der Grund dafür, dass er sich an den meisten Tagen davonstahl und sich zur anderen Seite der Stadt aufmachte, wo wohl schon seit der Gründung Naharmbras all die Leute lebten, welche die täglichen Dienste verrichteten, die der Aristokratie ihr komfortables Leben ermöglichten – und diejenigen, die auf weniger durchsichtige Art und Weise die Vorteile der alten Adelsstadt zu nutzen wussten. Nach und nach versammelte er eine mit allen Wassern gewaschene Gruppe von jungen Burschen um sich – oder vielleicht hatten sie ihn auch einer um den anderen als eine Art Maskottchen adoptiert, Mudmal war sich nie ganz sicher, welche Version, die seine oder die ihre, den Tatsachen eher entsprach.
Nachdenklich wischte Mudmal seine Nammsa-fetten Finger an seinen Hosen ab und begann, mit dem Neoly-Siegelring am mittleren Finger seiner linken Hand zu spielen. Vom ersten Tag an, da es ihn zum Alten Hafen getrieben hatte, hatte er sich immer wieder gefragt, ob er den Ring nicht besser in seiner Brusttasche verschwinden lassen sollte, solange er sich in diesem Teil der Stadt befand; genug Blicke zog das Wappen jedenfalls auf sich, zumindest zu Anfang. Inzwischen jedoch hatten sich die alteingesessenen Anwohner des Hafendistrikts an den naseweisen Aristokratenjungen gewöhnt, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, sich in ihrem Revier herumzutreiben; und keiner war dumm genug, einem Sohn der Großen Alten ans Leder zu wollen. Außerdem hätte Mudmal auch ohne Siegelring nur schwer seine Identität und ganz sicher nicht seine Herkunft verbergen können. Also versuchte er es erst gar nicht. Keiner seiner Freunde hatte ihn je nach dem Grund seines Auftauchens im Hafenviertel gefragt oder ihn auf seine Familie angesprochen. Sie nannten ihn jedoch ohne Ausnahme »Neo« – eine Respektlosigkeit, die Mudmal dieselbe diebische Freude bereitete, wie die Tagediebe mit Großem Alten Geld zechfrei zu halten.
Die Sonne über dem spiegelglatten Inneren Ozean stand inzwischen etwas tiefer als sie sollte, und Mudmal blickte seufzend auf den Alleskönner, der wie ein Reif um seinen Unterarm lag, und tippte ihn an, um ein aktuelles Zeithologramm aufzurufen. Die letzten zwei Jahre hatte er lernen müssen, dass Zeit im Hafenviertel nicht ernster genommen wurde als von den Aristokraten, und grundsätzlich hatte er kaum Probleme damit. Aber heute war ein wichtiger Tag, und wenn Nott und seine Kumpane noch lange auf sich warten ließen, würden sie auf das Gebäck verzichten müssen, das Mudmal geplant hatte, ihnen auszugeben. Da das aber noch lange kein Grund war, warum er selbst sich mit nur einer Nammsa zufrieden geben sollte, sprang er auf und schlenderte von der Mole in Richtung der Bäckerei, die Hände in den Hosentaschen. Der Nachmittag war viel zu still und friedlich, um sich schnell zu bewegen, und Mudmal genoss dieses Gefühl, wohlwissend um seine Vergänglichkeit. Allerdings hätte er nicht gedacht, dass seine Idylle derart flüchtig war, dass sie ihr Ende fand, noch ehe er die Bäckerei erreicht hatte.
»Sieh mal einer an, Nembdrrynn Neoly«, riss ihn eine Stimme aus seiner belanglosen Versunkenheit, die er nicht mehr gehört hatte seit dem Tag, da sein Großvater Vairrynn und ihn aus ihrer alten Schule genommen hatte. Mudmal wandte sich um mit einem Ausdruck im Gesicht, als wäre er in etwas ausgesprochen Unappetitliches getreten. Und tatsächlich: Im Schatten eines alten, hölzernen Bootes, das entweder als irgendein Denkmal hier aufgestellt oder einfach vor Äonen im Alten Hafen vergessen worden war, lehnte die vierschrötige Gestalt von Gynl Hnell, Fluch von Mudmals Kindheit und Feigling sondergleichen.
Der Gebrauch des Schimpfnamens ›Nembdr-Sohn‹, der damals, vor ach so langer Zeit, ein todsicheres Mittel gewesen war, ihn die Beherrschung verlieren zu lassen, fiel Mudmal jetzt nicht einmal sonderlich auf. Er war schlicht und einfach angewidert, dass Gynl in sein ureigenes Territorium eindrang. Es gab nur einen offensichtlichen Grund, aus dem Männer von Gynls Stand – Mudmal weigerte sich in einem Anflug echten Neoly’schen Familienstolzes, jemanden aus einer derart niedrigrangigen Dynastie als Gleichgestellten zu betrachten – sich ins Hafenviertel begeben würden, und seine Abscheu für Adlige, die die Suche nach frischem (oder nicht so frischem) Fleisch auf die andere Seite der Stadt verschlug, kannte keine Grenzen. Gynls Gesicht verdüsterte sich, als er Mudmals angeekelter Miene gewahr wurde.
»Was treibt dich hier in diese verrufene Gegend, Kleiner?«, fragte er. »Und das auch noch ohne deine treudoofen Babysitter! Na, wo sind denn die beiden Hübschlinge? Haben sie dich für ihr kleines Techtelmechtel dir selbst überlassen?«
Mudmal rollte nur mit den Augen. Über die enge Freundschaft seines Bruders mit Ftonim Sar hatte er sich schon so lange Anzüglichkeiten anhören müssen, wie er sie auch nur ansatzweise verstanden hatte, doch jeglichen ernsthaften Spekulationen hatte stets Vairrynns Ruf unter seinen Mitschülern und Ftoms bei den Frauen einen Riegel vorgeschoben. Mudmal musste dem jungen Sar unbedingt von Gynls erbärmlichem Versuch in geistreicher Häme erzählen, und sei es nur, um dessen zungenfertigen Kommentar zu hören. Oder doch lieber nicht, denn dann war es unvermeidbar, dass auch Vairrynn davon erfuhr, und der würde sich wahrscheinlich aus Prinzip verpflichtet fühlen, Gynl aufzustöbern und ihm eine Abreibung zu verpassen, weil er die Unverfrorenheit besessen hatte, Mudmal zu belästigen. Dieser seufzte; sein großer Bruder täte gut daran, ein wenig lockerer zu werden. Vairrynn war in letzter Zeit so angespannt wie eine Bogensehne.
»Was ist, Neoly? Hat es dir die Sprache verschlagen?«
Mudmal rollte wieder mit den Augen. »Ja, Gynl, genau: Deine Scharfzüngigkeit und -sichtigkeit haben mich jeglicher Artikulationsfähigkeit beraubt. Du hast uns alle durchschaut: Wir feiern jeden Tag wilde Orgien, und was wir nachts treiben, kann ich deinen unschuldigen Ohren wirklich nicht zumuten.«
Gynls Augen verengten sich, und sein Gesicht lief gefährlich dunkel an. »Du bist eine Schande, Neoly. Das seid ihr alle.«
»Ja, aber sicher«, entgegnete Mudmal ungerührt und wandte sich zum Gehen. Er wusste schlicht und ergreifend Besseres mit seiner Zeit anzufangen, als sie an Gynl Hnell zu verschwenden, und Beleidigungen zu überhören, hatte er in den vergangenen beiden Jahren gelernt.