Doch dann fällt mir ein, dass der Herr Graf möglicherweise nichts davon hält, an der ein- oder anderen Stelle mit einem kleinen Hinweis auf die nicht ganz so weißen Westen der Entscheidungsträger die Aktionen gegen die Famiglia ein bisschen zu forcieren. Natürlich erpresse ich niemanden, nicht so richtig, ich nenne es lieber Motivation. Ich würde mich auch nie auf Carlos Niveau herablassen und wirklich jemanden anschwärzen, deswegen ist es ja auch nicht so schlimm. Oder? Ich ruiniere keine Leben, so wie er.
Der Oberstaatsanwalt sieht das wahrscheinlich anders. Der würde bestimmt von Erpressung sprechen. Überkorrekter Blödmann! Also sollte ich wohl besser dafür sorgen, dass er mich nicht erwischt. Passend zu diesem Gedanken kehren auch die Kopfschmerzen, die mich unerklärlicherweise ein paar Minuten in Ruhe gelassen haben, zurück. Ich tunke einen Finger in Lilianes Geheimwaffe, eine Dose mit weißem Tigerbalsam, und massiere mir die Schläfen damit. So richtig hilft es nicht, aber immerhin wird Liliane glücklich sein, und schlimmer wird es auch nicht.
Was dieses Hämmern im Kopf anheizt, ist eher der Gedanke, der Oberstaatsanwalt könnte herausfinden, dass Carlo nicht geschossen hat. Weil er meine Meinung nicht teilen wird, dass es egal ist, wer denn nun abgedrückt hat. Carlo ist an allem schuld. Punkt!
Nein, unmöglich kann ich den Fall allein D’Vergy überlassen. Wenn die schönen Indizien, von denen es doch wirklich mehr als genug gibt, nicht ausreichen, um für Carlos Verurteilung zu sorgen, dann soll der Boss der Famiglia wenigstens vor einem Scherbenhaufen stehen, wenn er rauskommt. Ich rufe erneut die Mail auf, die ich gerade begonnen habe, als der Anruf des Oberstaatsanwalts mich unterbrochen hat.
»Du glaubst also, Steuern und Sozialabgaben für eure Bauarbeiter seien nichts als Kinkerlitzchen, mit denen sich die Famiglia nicht abgeben muss, Carlo?«, flüstere ich. »Dann wollen wir doch mal sehen, was die Zollfahndung dazu sagt!«
Kapitel 9
München-Altstadt, 18. Oktober 2019, abends
Nachdem ich mir die Cortone Akten noch mal angesehen habe, ist es definitiv zu spät, um sich auf die Suche nach einem Trainingspartner zu machen, der sich spontan auf einen kleinen Übungskampf einlassen würde. Wahnsinnig gerne würde ich mich wieder mal bis zur Erschöpfung verausgaben, vielleicht sogar ein kleines Stückchen darüber hinaus. Mit einem weiteren Blick auf die Uhr seufze ich – morgen! Und nachdem Dad aus unerfindlichen Gründen immer noch nicht geruht, Italien zu verlassen, um mir in dem riesigen, leeren Bungalow Gesellschaft zu leisten, beschließe ich, Sonjas Salon aufzusuchen, anstatt allein zu Hause herumzusitzen. Wenn ich es schaffe, irgendwo auf andere Gedanken zu kommen, dann wahrscheinlich dort.
Ich kenne Sonja seit vielen Jahren. Sie kam in unser Haus, kurz nachdem mein Vater beschlossen hatte, dass ich den Tod meiner Mutter vielleicht überwinden würde, wenn wir weit weg von Italien ganz neu anfangen würden. Sonja besuchte uns, da Dad ein Gemälde schätzen lassen wollte, und er war sofort mehr als angetan vom Kunstverstand der jungen Galeristin.
Seitdem haben wir uns häufig getroffen. Dass wir noch eine ganz andere Leidenschaft teilen, merkten wir erst Jahre später, als ich das erste Mal den Club The Prison betrat und mich unversehens der Kunstsachverständigen im Outfit einer Domina gegenübersah. Ich bin mir bis heute nicht sicher, wessen Schock größer war.
Neben ihrer Galerie führt Sonja seit ein paar Jahren einen verschwiegenen Salon und es wird wirklich höchste Zeit, dass ich mich da mal wieder blicken lasse. Auch wenn mir gerade nicht unbedingt der Sinn nach Intimitäten steht. Aber die handverlesenen Gäste, die lockere Atmosphäre und der niveauvolle Umgang mit ungewöhnlichen sexuellen Vorlieben machen einen Besuch in Sonjas Salon zu einem einzigartigen Erlebnis. Ich könnte bei einer Session zusehen – oder mir einfach nur ein paar Drinks genehmigen und mich unter Gleichgesinnten entspannen.
Außerdem muss ich mich vor Sonja nicht verstellen. Sie kannte mich als verstörten Knaben, sie kannte mich als jungen, wilden Dom, der sich auf der Suche nach sich selbst fast verloren hätte, und sie kennt den Juristen ohne Privatleben, der all diese Phasen zum Glück hinter sich gelassen hat.
Zu Hause tausche ich den Anzug gegen eine schnörkellose Lederhose und ein schwarzes Seidenhemd und verberge den oberen Teil meines Gesichts hinter einer schlichten schwarzen Maske. Nicht, um unerkannt zu bleiben. Ich habe Schneider nicht angelogen, ich habe nichts zu verbergen. Den Versuch, mich mit meiner Vergangenheit als Master zu diffamieren, kann man sich getrost sparen, das stört mich wenig. Nein, die Maske trage ich, damit mir niemand meine Traurigkeit ansieht. Und weil sie mir ausgezeichnet steht, natürlich.
In Sonjas Salon nehme ich nach einer angeregten Unterhaltung mit der Hausherrin ein wenig abseits Platz, genieße einen hervorragenden schottischen Whiskey und beobachte das Geschehen. Eine junge Frau im Katzenkostüm bewegt sich ebenso geschmeidig an die Bar wie das Tier, das sie darstellt. Der Rückweg mit einem langstieligen Glas mit tonnenweise Obst als Dekoration ist schwieriger zu bewältigen, doch sie bringt das Kunststück fertig, schafft es sogar, neben ihrem Herrn auf die Knie zu gehen, der ihr das Glas ohne hinzusehen abnimmt. Kein Wort fällt, aber die Art, wie er genau wusste, wann sie wo sein würde, zeigt mir, dass er sein Kätzchen keinen Augenblick aus den Augen verloren hat. Und die stolze Neigung ihres Kopfes verrät, dass sie weiß, dass sie es gut gemacht hat.
Ich lächle und mein Blick wandert weiter zu einem jungen Mann, der zu Füßen seines Masters sitzt und hingebungsvoll dessen Daumen mit seiner Zunge liebkost. Die Leidenschaft, mit der er sich dieser Tätigkeit widmet, zaubert automatisch ein Bild in meinen Kopf, wie der junge Sub ganz andere Körperteile seines Masters verwöhnt.
»Herr?«
Überrascht hebe ich den Kopf und erhasche einen Blick auf eine Frau, deren langer, schlanker Körper in einem raffinierten Neckholder-Kleid aus schwarzer Spitze steckt, ehe sie vor mir auf die Knie sinkt. Sie neigt den Kopf und ihr langes, blondes Haar fällt wie ein Wasserfall nach vorne.
Ich warte, doch der Mut scheint sie verlassen zu haben. Seltsam genug, dass sie mich angesprochen hat. Ob Sonja dahintersteckt?
»Wie heißt du?«, frage ich sanft.
»Nina, Herr.«
Die richtige Antwort wäre natürlich gewesen, dass sie auf jeden Namen hört, den ich ihr zu geben wünsche. Die richtige Antwort für jeden Herrn hier, außer mir. Sonja hat sie hergeschickt.
»Nina«, sage ich leise. »Was für ein schöner Name für eine schöne Frau.« Ich verteile keine sinnlosen Komplimente. Sie ist schön. Und genau mein Typ. Groß, schmal und biegsam wie ein junger Baum. »Warum bist du heute hier, Nina?«, frage ich und stelle mein Glas beiseite.
Meine tiefe, leise Stimme scheint sie zu beruhigen. Ein wenig stockend erzählt sie, dass sie München für einige Wochen verlassen musste, um ihre kranke Mutter zu versorgen. Irgendwo tief im Bayerischen Wald, wo sie niemanden hat, der ihre Neigungen teilt.
Die Versuchung ist groß. Sie ist schön, willig und ausgehungert nach allem, was ich bereit bin zu tun. Rein und makellos würde sie aussehen, alle Spuren verblasst, ganz so, als hätte noch nie jemand mit ihr gespielt.
»Ich kann dir nicht geben, was du suchst, Nina.«
»Ich bin nicht anspruchsvoll, Herr.«
»Das solltest du aber sein.« Ich seufze. »Das ist ein wunderschönes Geschenk, das du mir da anbietest. Ich bin es nicht wert, es anzunehmen.«
Sie zuckt zusammen, ob wegen der unpassenden Wortwahl für einen Herrn oder wegen der Zurückweisung, vermag ich nicht zu sagen.
Ich will ihr nicht wehtun, jedenfalls nicht auf die Art, auf die ich es gerade tue. Aber dieser Hauch von Verzweiflung in ihrer Stimme, dieser sehnsüchtige Unterton, der in ihren Worten mitschwingt, warnt mich, dass Nina mehr sucht als ein aufregendes Spiel. Und so sicher,