Im Institut erwarten mich mehrere Überraschungen. Ich werde nicht dazu genötigt, einer Obduktion beizuwohnen, sondern man weist mir den Weg zu Dr. Theissens Büro. Dann das Namensschild an der Tür: Dr. Stefanie Theissen. Eine Gerichtsmedizinerin. Ich schelte mich selbst einen unverbesserlichen Chauvinisten, dann klopfe ich an.
Dr. Theissen stellt sich als stämmige Frau mit hübschen rötlichbraunen Locken, einer Stupsnase und einer Nickelbrille heraus, durch die sie mich neugierig anblinzelt. Ich schätze sie auf Anfang fünfzig.
Im Gegensatz zu mir hat sie einen Besucherstuhl vor ihrem Schreibtisch stehen, und nachdem wir uns vorgestellt haben, bietet sie mir höflich an, Platz zu nehmen. Ich muss zugeben, ich bin aufs Angenehmste überrascht, und sage das auch.
Sie lacht. »Weil ich mein Büro nicht mit in Formaldehyd eingelegten Organen dekoriert habe?« Sie droht mir spöttisch mit dem Zeigefinger. »Das ist aber ein albernes Klischee aus einem Fernsehkrimi, Herr Oberstaatsanwalt.«
Ich grinse, entschuldige mich aber lieber dafür, dass ich noch nicht hier war, um mich vorzustellen.
»Das macht doch nichts. Nach dem plötzlichen Ableben von Dr. Walther ist es sicher nicht einfach, sich in seine Fälle einzuarbeiten. Da hatte ich es besser, mein Vorgänger hat genug Zeit für eine Übergabe eingeplant, bevor er in Rente ging.«
Stimmt. Dr. Theissen hat nur wenige Wochen vor mir ihren Job angetreten, mein Assistent hatte so etwas in der Richtung erwähnt.
»Da sind wir auch gleich beim Thema. Ich habe sie hergebeten wegen … Dr. Walther.«
Sie hält kurz inne, und ich beuge mich interessiert vor.
»Gibt es doch Hinweise auf Fremdverschulden?«, frage ich.
»Nein, nein, das ist es nicht. Ich habe mich nur gefragt, was es für einen Eindruck auf Sie gemacht haben mag, als Sie von seinem Freitod erfahren haben. Was haben Sie gedacht, als Sie hörten, dass Sie die Stelle angeboten bekommen, weil Ihr Vorgänger sich umgebracht hat?«
Ich mustere sie einen Moment. Wir kennen uns erst seit ein paar Minuten. Für meinen Geschmack zu kurz, um persönliche Ansichten miteinander zu teilen. Ich bin zugegeben ein wenig irritiert. Andererseits war sie mir sofort sympathisch, deshalb beschließe ich, mich darauf einzulassen und einfach mal abzuwarten, wohin das führt.
»Ich habe gedacht, dass niemand es verdient hat, die letzten Minuten seines Lebens in absoluter Verzweiflung zu verbringen, und das wird er wohl, unabhängig davon, wie es dazu gekommen ist, dass er sich die Pulsadern aufgeschnitten hat.«
»Sie verachten ihn nicht dafür?«
»Nein. Ich ahne, wie tief das Gefühl der Hoffnungslosigkeit sein muss, wenn man sich zu so einem Schritt genötigt sieht.« Allzu oft bin ich selbst an dieser Klippe entlangbalanciert. »Jetzt bin ich aber gespannt, worauf dieses Gespräch hinausläuft.«
Doch Dr. Theissen will sich noch nicht in die Karten schauen lassen. »Mein Vorgänger segelt jetzt mit seiner Frau durchs Mittelmeer. Seit Jahren ihr Traum, hat er gesagt.«
Aha? Und was hat das jetzt mit Dr. Walther zu tun?
»Ich werde seine Obduktionsergebnisse in den ausstehenden Prozessen erläutern. Deshalb arbeite ich gerade sämtliche Berichte durch. Dabei ist mir eine Unstimmigkeit aufgefallen …«
Sie wollte meine Meinung zu Dr. Walthers Suizid wissen, weil sie einen Fehler ihres Vorgängers aufgedeckt hat? Interessante Herangehensweise. Ich gebe ihr mit einem Nicken zu verstehen, dass sie fortfahren soll.
»Es geht um Tosh Silvers.«
Schon wieder dieser Fall! Die Ermittlungen rund um Tosh Silvers’ Tod waren wirklich mehr als mangelhaft. Aber deswegen wird mein Vorgänger sich wohl kaum umgebracht haben.
»Eine Unstimmigkeit?«, hake ich nach.
»Es geht um Dinge, die teilweise Jahre zurückliegen und die es aus unerfindlichen Gründen nicht in den Bericht geschafft haben.«
Interessiert neige ich den Kopf zur Seite.
»Es gibt deutliche Anzeichen für jahrelange Misshandlungen.«
Wie bitte? Medikamentenmissbrauch oder eine unheilbare Krankheit hätten mich jetzt nicht überrascht, aber das?
»Etliche Knochenbrüche, Schnittverletzungen, eine Brandwunde«, erläutert sie. »Sehen Sie sich das an.«
Dr. Theissen dreht den Monitor ihres Computers herum, sodass ich auf den Bildschirm schauen kann.
»Eine Röntgenaufnahme der linken Hand des Opfers. Jeder Finger weist mehrere Brüche auf, die in unterschiedlichen Zeitabständen entstanden sein müssen.«
»Sportverletzungen?«, frage ich.
»Dafür würde sprechen, dass sämtliche Brüche professionell behandelt wurden«, meint sie. »Wie auch einige der anderen Verletzungen. Allerdings fällt mir keine Sportart ein, bei der ein Körper derartig in Mitleidenschaft gezogen wird.«
Alles klar, es ist nicht ihre Aufgabe, das herauszufinden, sondern meine. »Gibt es Anhaltspunkte dafür, wann das angefangen hat?«
»Im Alter von zehn bis vierzehn Jahren, genauer könnte ich das auch nicht feststellen, wenn ich das Opfer noch auf meinem Tisch hätte.« Sie zuckt mit den Achseln. »Definitiv, bevor er ausgewachsen war.«
Kindesmisshandlung. Ich könnte kotzen.
»In den letzten Jahren scheinen keine neuen Brüche hinzugekommen zu sein, aber einiges deutet darauf hin, dass etliche Schnittverletzungen jüngeren Datums sind. Allerdings steht nichts davon in direktem zeitlichem Zusammenhang mit dem Mord. Trotzdem schien mir die Information wichtig …«
Mir auch. »Danke«, sage ich schlicht.
»Sehen Sie sich das an«, meint sie, und das Foto eines Oberarms erscheint auf dem Monitor. »Diese Schnitte kommen sicher nicht vom Sport.«
Silvers’ Schulter ziert ein Tattoo, eine Dornenhecke oder so etwas, und irgendjemand hat das Muster mit einem scharfen Messer weitergezeichnet, sodass sich ein Netz feiner Narben den Arm hinunterzieht.
»Ich tippe auf ein Skalpell«, meint Dr. Theissen.
Ich muss mich mehrmals räuspern, bevor ich meine nächste Frage stelle. »Könnte es sein, dass die neueren Verletzungen im Rahmen sexueller Handlungen vorgenommen wurden?«
Tosh Silvers wäre nicht der Erste, der nach einem Kindheitstrauma nur noch über den Schmerz Zugang zur eigenen Lust fand. Leider.
»Cutting?«, fragt Dr. Theissen zweifelnd. »Keine weit verbreitete Spielart.«
Besonders nicht, wenn man so tief schneidet, wie das hier offenbar der Fall war. Allerdings kenne ich genug sogenannte Master, die es genießen, bleibende Male auf ihrem Partner zu hinterlassen. Und wenn dieser Partner zu allem Überfluss mit einem Trauma zu kämpfen hat … »Aber es wäre möglich?«
»Ich habe Sie nicht hergebeten, um mich an Spekulationen zu beteiligen«, sagt sie, mildert ihre strengen Worte jedoch ein wenig ab, indem sie mich wieder eulenhaft durch ihre Brille anblinzelt.
»Natürlich. Ich entschuldige mich.« Ich hebe beschwichtigend die Hände. »Die Berichte, die ich bisher gelesen habe, zeigen das Opfer als erfolgreichen Geschäftsmann, der ein zurückgezogenes Leben führte. Ein Bild, das immer mehr ins Wanken gerät. Dazu kommt, dass mir die Wahrheit nur scheibchenweise serviert wird. Dieser Fall ist ein Fiasko.«
»Möglicherweise kann ich Ihnen anderweitig weiterhelfen. Ich habe meinen Sektionsassistenten gefragt, was er von der Sache hält. Es befinden sich selbstverständlich immer sämtliche Befunde in unserem Bericht, egal ob es sich um den aktuellen Mageninhalt oder eine lang zurückliegende Blinddarmoperation handelt. Er konnte sich die unvollständigen Angaben