Problem Nummer zwei waren seine Augen. Er litt seit seinem zwanzigsten Lebensjahr unter einer leichten Kurzsichtigkeit, die sich in letzter Zeit zu verschlimmern schien. Allerdings war er zu eitel, um eine Brille zu tragen. Außerdem fand er, dass ein Personenschützer mit Brille auf der Nase höchst uncool war. Deshalb hatte er es mit Kontaktlinsen versucht. Doch er schaffte es einfach nicht, sich die Linsen in die Augen zu setzen. Sein Lidschlussreflex, der das Augenlid jedes Mal unmittelbar vor dem Einsetzen automatisch schloss, machte ihm immer wieder einen Strich durch die Rechnung. Das wunderte ihn allerdings nicht, denn seine Augen waren schon immer seine sensible Zone gewesen. Bereits als Kind hatte er Probleme gehabt, sich Tropfen ins Auge zu träufeln. Vor allem im Job bemühte er sich daher, sich von seiner Kurzsichtigkeit nichts anmerken zu lassen und sich irgendwie durchzumogeln. Bisher war ihm das gelungen, ohne dass jemand Verdacht geschöpft hatte, doch wenn sich die Sehschwierigkeiten verstärkten, musste er wohl oder übel allmählich doch über eine Brille nachdenken.
Kohler seufzte. Nachdem sein nahezu perfekter Adoniskörper ihn vor wenigen Augenblicken noch mit so viel Freude erfüllt hatte, wollte er sich den Abend nicht vermiesen lassen, indem er noch länger über seine Kurzsichtigkeit nachgrübelte. Deshalb verdrängte er das Thema kurzerhand aus seinem Bewusstsein. Doch da eins meist zum anderen führte, machte er sich plötzlich Gedanken über seine Erektionsstörungen, womit er unversehens und ungewollt beim Problembereich Nummer drei angelangt war. Er hatte den starken Verdacht, dass es vor allem an den Anabolika lag, dass er nicht nur ordentlich Muskeln aufgebaut, sondern inzwischen immer größere Schwierigkeiten hatte, einen Ständer zu bekommen. Doch da er gegenüber Frauen ohnehin unerwartet schüchtern war, war es bislang kein riesiges Problem für ihn gewesen. Dennoch machte er sich gelegentlich Gedanken, ob es nicht doch besser wäre, auf Steroide zu verzichten. Aber dann, so befürchtete er, würde er einen Teil seiner eindrucksvollen Muskelmasse und vielleicht sogar seinen Job verlieren. Außerdem fürchtete er mögliche Entzugserscheinungen. Also kam ein Verzicht auf Anabolika für ihn im Grunde überhaupt nicht infrage, sodass es sich gar nicht lohnte, darüber nachzugrübeln.
Erneut seufzte Kohler tief, bevor er all die negativen Gedanken aus seinem Bewusstsein verdrängte. Ein letzter Blick in den Spiegel auf seinen athletisch wirkenden gebräunten Körper hob seine Stimmung sofort wieder und ließ ihn erneut breit grinsen, sodass seine unnatürlich weißen Zähne im Lichtschein der Beleuchtung aufblitzten. Dann wandte er sich ab, verließ das Badezimmer und schaltete das Licht aus.
Auf dem Weg durch den Flur zum Schlafzimmer, wo er seine Kleidung für diesen Abend bereits vor dem Duschen ausgewählt und aufs Bett gelegt hatte, sang er leise vor sich hin: »I’m too sexy for my love, too sexy for my love …«
Doch als er gerade die Kommode passierte, auf der sein Smartphone lag, gab dieses plötzlich die Tonfolge für einen eingehenden Anruf von sich, sodass er unwillkürlich erschrak und verstummte.
»Irgendwann bekomme ich noch einen Herzinfarkt«, murmelte er, wovor er tatsächlich große Angst hatte. Denn der längerfristige Konsum anaboler Steroide führte nach Meinung anerkannter Experten nicht nur zu einer gestörten Spermienproduktion, Schrumpfhoden und Unfruchtbarkeit, sondern erhöhte auch das Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko. Doch ebenso wie ein nikotinabhängiger Raucher, den auch keine noch so furchtbaren Schockbilder möglicher gesundheitlicher Folgen auf Zigarettenschachteln vom Rauchen abhielten, ignorierte Kohler sämtliche Risiken, die die Einnahme von Anabolika für ihn bedeuten konnten.
Er griff nach seinem Handy und warf einen Blick auf das Display, um zu sehen, wer ihn anrief. Es handelte sich jedoch um eine unbekannte Nummer. Da er auf dem Telefon allerdings nur wenige Kontakte gespeichert hatte, kam das oft vor. Deshalb dachte er sich nichts dabei und nahm den Anruf entgegen.
»Ja?«
»Spreche ich mit Ralf Kohler, der von seinen wenigen Freunden auch Angel genannt wird?«, fragte die tiefe Bassstimme eines Mannes.
Kohler runzelte verwirrt die Stirn. Er kannte die Stimme nicht, die aufgrund ihrer Tiefe auf ihn allerdings unwillkürlich einschüchternd wirkte. Aber vielleicht erlaubte sich einer seiner Bekannten einen Spaß mit ihm und hatte einen Freund gebeten, ihn anzurufen. Deshalb beschloss er, erst einmal mitzuspielen, um den Spieß dann umzudrehen und dem Anrufer und seinem Freund den Spaß zu verderben.
»Ja, der bin ich. Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«
»Ich bin der Tod!«
Kohler machte ein verdutztes Gesicht und sah sich dabei in dem mannshohen Spiegel an, der im Flur hing. Es gab noch weitere Spiegel, die in der ganzen Wohnung verteilt waren, ebenso wie unzählige Fotografien von ihm selbst, denn Kohler konnte nicht genug von seinem Ebenbild bekommen. Als er jetzt seinen entgeisterten Gesichtsausdruck sah, musste er unwillkürlich grinsen. Zuerst hatten ihn die Worte des Anrufers, vor allem wegen der tiefen Stimme und seiner Ernsthaftigkeit, erschreckt, doch jetzt fand er es nur noch lächerlich. Aber anstatt der Farce ein schnelles Ende zu bereiten, indem er das Gespräch beendete, spielte er den Ahnungslosen.
»Wer, sagten Sie, sind Sie noch mal? Ich hab es leider akustisch nicht richtig verstanden. Es klang doch tatsächlich so, als behaupteten Sie, Sie wären … der Tod.«
»Du hast schon richtig verstanden, Angel«, antwortete die tiefe Stimme, in der keine Spur von Humor mitschwang, was Kohler, auch wenn er noch immer überzeugt war, dass er hier nach Strich und Faden verarscht werden sollte, dennoch ein unwohles Gefühl und eine Gänsehaut bescherte. »Ich bin tatsächlich der Tod!«
Kohler lachte, obwohl es etwas aufgesetzt klang. »Und weswegen rufen Sie mich an, Herr … Tod?« Er bemühte sich, das letzte Wort möglichst hämisch auszusprechen, doch da seine Stimme dabei leicht zitterte, misslang sein Vorhaben.
»Ich wollte dir nur sagen, dass ich in diesem Moment auf dem Weg zu dir bin, um dich zu holen, Angel.«
Kohler konnte im Spiegel mitansehen, wie das unechte Lächeln auf seinem Gesicht zerfloss und sich in einen Ausdruck der Wut verwandelte, denn allmählich ging der Anrufer entschieden zu weit. Für einen Spaß war Kohler immer zu haben, solange er nicht auf seine Kosten ging. Aber was der Kerl hier tat, war kein Spaß mehr. »Jetzt hör mir mal gut zu, du dummes Arschloch«, sagte er daher, spannte die Muskeln an und ballte die linke Hand unwillkürlich zur Faust. »Das ist nicht witzig. Also hör sofort auf damit und sag mir, was dieser Scheiß soll!«
»Ich sagte dir doch schon, was ich vorhabe. Ich komme, um dich zu holen.«
Kohler schnaubte verächtlich. Die absolut humorfreie tiefe Stimme erfüllte ihn zwar immer stärker mit Unbehagen, doch er hatte nicht vor, sich davon beeindrucken zu lassen. Immerhin war er ausgebildeter Personenschützer und würde sich daher von irgendeinem dahergelaufenen Idioten nicht ins Bockshorn jagen lassen. »Hör zu, Arschloch. Ich glaube nicht, dass du wirklich den Mumm hast, zu mir zu kommen, denn in Wahrheit bist du nur ein perverser Schwächling, der am Telefon eine große Klappe hat, aber den Schwanz einzieht, wenn es darauf ankommt. Aber komm ruhig her, wenn du dich traust. Mach dich allerdings darauf gefasst, dass ich dir dann deine hässliche Fresse poliere und anschließend den Boden damit aufwische.« Den letzten Satz hatte Kohler mal irgendwo gehört und sich gemerkt, um ihn irgendwann selbst zum Besten geben zu können.
»Bis gleich!«, erwiderte der Anrufer daraufhin nur und legte auf.
Kohler nahm das