Pflegerinnen sich zwischen uns drängten. Meine Tante, die Schwester meiner Mutter, löste mich in der Pflege ab, wenn ich Ruhe nötig hatte.
Während sieben langer trauriger Monate litt unsere Dulderin. Ich habe nur eine Erinnerung, die mich tröstet, der letzte Kuss meiner Mutter gehörte mir — sie starb friedlich, während ihr Kopf an meiner Brust ruhte.
Ich war fast neunzehn Jahre alt, bevor ich die nötige Entschlossenheit in mir fühlte, ernstlich an mich selbst und an meine Zukunft zu denken. In diesem Alter unterwirft man sich nicht gern zum ersten Mal der Botmäßigkeit einer Erzieherin. Da ich meine Tante als meine Gefährtin und Beschützerin hatte, so erklärte ich, meine Lehrer selbst zu nehmen und meine weitere Ausbildung selbst überwachen zu wollen.
Meine Pläne erhielten aber nicht die Billigung des Familienhauptes. Es erklärte — sehr zu Unrecht, wie die Folge ergab — dass meine Tante keine passende Persönlichkeit sei, für mich zu sorgen. Sie hätte die letzten Jahre ihres Lebens ganz in Zurückgezogenheit zugebracht. Sie sei eine gute Seele in ihrer Art — das gab jener zu — aber sie habe keine Kenntnis von der Welt und keine Festigkeit des Charakters. Die richtige Person, mich in die öffentliche
Gesellschaft einzuführen und meine Erziehung zu überwachen, sei die hochsinnige und gebildete Frau, welche seine eigenen Töchter unterrichtet habe.
Mit gebührender Dankbarkeit und Achtung lehnte ich es ab, seinem Rate zu folgen. Schon der Gedanke, so bald nach dem Tode meiner Mutter mit einer Fremden zusammenleben zu müssen, empörte mich. Außerdem liebte ich meine Tante und sie liebte mich. Nachdem das Familienhaupt von meinem Vorhaben Kenntnis erhalten hatte, wurde ich, gerade so wie meine Mutter vor mir, nicht weiter mehr beachtet.
So lebte ich mit meiner guten Tante in Zurückgezogenheit und bemühte mich unablässig, meinen Geist auszubilden, bis mein einundzwanzigster Geburtstag kam.
Ich war nun Erbin, und berechtigt, selbst zu denken und selbst zu handeln.
Meine Tante küsste mich zärtlich. Wir sprachen von meiner guten Mutter und weinten, uns einander umarmend, an dem wichtigen Tage, der mich zu einem reichen Mädchen machte.
Kurze Zeit darauf sollte aber anderer Kummer als vergeblicher Gram um die Tote mich auf die Probe stellen, und es sollten andere Tränen meine Augen füllen als diejenigen, die ich dem Andenken meiner guten Mutter gewidmet hatte.
II.
Ich will nun zu meinem Besuche der Heilquellen von Maplesworth im Juni 1817 zurückkehren. Dieser berühmte inländische Badeort war nur neun bis zehn Meilen von
meiner neuen Heimat Nettlegrove Hall entfernt. Ich hatte mich seit einigen Monaten schwach und niedergeschlagen gefühlt und unser ärztlicher Berater empfahl uns daher einen
Ortswechsel und einen Versuch mit den Heilquellen von Maplesworth. Meine Tante und ich richteten uns dort behaglich ein und hatten uns mit einem Empfehlungsschreiben an den ersten Arzt im Orte versehen. Dieser sonst harmlose und würdige Mann erwies sich seltsamerweise als die unschuldige Ursache der Versuchungen und Verlegenheiten, die mich beim Beginne meines neuen Lebens bedrängten.
Am Tage nach der Abgabe unseres Empfehlungsschreibens begegneten wir dem Arzte auf der öffentlichen Promenade.
Er war von zwei Fremden begleitet, jungen Männern, und, wie ich bei meiner geringen Erfahrung nach ihrer Kleidung und ihrem Benehmen urteilte, vornehmen Herren. Der Arzt richtete einige freundliche Worte an uns und ging dann wieder zu seinen Begleitern. Die beiden Herren sahen nach mir und zogen ihre Hüte, als ich und meine Tante den Spaziergang fortsetzten.
Ich gestehe, dass ich während des übrigen Tages zuweilen an die beiden wohlerzogenen Fremden dachte, besonders an den kleineren derselben, der nach meiner Meinung auch der schönere von beiden war.
Wenn dieses Geständnis etwas kühn erscheint, so möge man sich erinnern, dass ich auf St. Domingo niemals gelehrt worden bin, meine Gefühle zu verhehlen und dass die Ereignisse, welche unserer Ankunft in England folgten, mich vollständig von der Gesellschaft anderer junger Damen meines Alters abgeschlossen hatten.
Am nächsten Tage, während ich mein Glas Brunnen trank — beiläufig bemerkt ein äußerst schmutziges Wasser — gesellte sich der Arzt wieder zu uns.
Während er sich nach meiner Gesundheit erkundigte, erschienen auch die beiden Fremden wieder und zogen wieder ihre Hüte. Sie blickten erwartungsvoll nach dem Arzte, und dieser stellte sie — wohl in Erfüllung eines nach meiner Vermutung ihnen bereits gegebenen Versprechens — meiner Tante und mir förmlich vor: Erstens (ich nenne den hübscheren Mann zuerst) Arthur Stanwick, Hauptmann im Heere und von Indien in Urlaub zu Hause, der sich zu Maplesworth aufhielt, um eine Badekur zu gebrauchen; zweitens Herr Lionel Varleigh von Boston in Amerika, welcher England besuchte, nachdem er ganz Europa durchreist hatte, und nun zu Maplesworth verweilte, um seinem Freunde, dem Hauptmann, Gesellschaft zu leisten.
Da die beiden Herren ohne Zweifel bei ihrer Vorstellung wahrnahmen, dass ich ein wenig schüchtern war, so vermieden sie es zartfühlend, uns ihre Gesellschaft aufzudrängen.
Hauptmann Stanwick strich mit einnehmendem Lächeln seinen Backenbart und fragte mich, ob ich bereits einen Vorteil von meiner Badekur wahrgenommen hätte. Er sprach hierauf mit großem Lob von der reizenden Umgebung von Maplesworth und richtete dann, sich von mir wegwendend, seine nächsten Worte an meine Tante. Herr Varleigh nahm seine Stelle ein. Er hatte nicht den Vorzug eines hübschen Backenbartes und sprach mit vollendeter Würde.
»Ich habe einst den hiesigen Brunnen aus bloßer Neugier versucht. Ich kann daher den Ausdruck verstehen, Fräulein, den ich auf Ihrem Gesichte bemerkte, als Sie eben Ihr Glas leerten. Erlauben Sie mir, Ihnen etwas Feines anzubieten, das den üblen Geschmack des Wassers Ihrem Munde benimmt.« Dabei nahm er aus seiner Tasche eine hübsche kleine Schachtel, die mit Zuckermandeln gefüllt war, und überreichte sie mir. »Ich kaufte sie in Paris,« bemerkte er. »Da ich lange in Frankreich gelebt habe, so habe ich es in der Gewohnheit, Damen und Kindern kleine Geschenke dieser Art zu machen. Ich würde es den Arzt nicht sehen lassen, Fräulein, wenn ich an Ihrer Stelle wäre. Er hat das gewöhnliche ärztliche Vorurteil gegen Zuckermandeln.«
Mit dieser seltsamen Mahnung verbeugte er sich ebenfalls und zog sich bescheiden zurück.
Als ich nachher darüber nachdachte, musste ich mir eingestehen, dass es dem englischen Hauptmann — obgleich er der schönste der beiden Männer war und die feinsten
Manieren besaß — doch nicht gelungen war, meine Schüchternheit zu überwinden. Die ungekünstelte Aufrichtigkeit und die gute Laune des amerikanischen Reisenden dagegen behagten mir durchaus. Ich konnte ihn ansehen, ihm danken und mich erheitert fühlen über seine Teilnahme der Grimasse gegenüber, die ich machte, als ich das schlechtschmeckende Wasser verschluckte. Und doch war es, während ich wach zu Bette lag und gerne wissen mochte, ob wir unseren neuen Bekannten am nächsten Tage wieder begegnen würden, der englische Hauptmann, den ich am liebsten zu sehen wünschte, und nicht der amerikanische Reisende. Jetzt schreibe ich dies nur meiner eigenen Verkehrtheit zu. O Himmel! Jetzt weiß ich es besser als damals.
Der nächste Morgen brachte den Arzt zu einem speziellen Besuche meiner Tante nach unserem Gasthofe. Er ersann einen Vorwand, mich in das anstoßende Zimmer zu schicken,und da ich seine Absicht durchschaute, so war meine Neugier rege geworden. Ich gab ihr nach. Soll ich mein Geständnis noch offener machen? Soll ich eingestehen, dass ich mich soweit herabließ, hinter der Tür zu horchen? Ich hörte meine liebe alte Tante harmlos sagen: »Doktor! Ich hoffe, dass Sie nichts Beunruhigendes in dem Gesundheitszustande Berthas sehen.« Der Arzt brach in lautes Lachen aus. »Gnädige Frau!« sagte er, »es ist nichts in dem Befinden der jungen Dame, was Ihnen oder mir auch nur die geringste Besorgnis verursachen könnte. Der Zweck meines Besuches ist vielmehr der, mich zu rechtfertigen, dass ich Ihnen gestern jene beiden Herren vorgestellt habe. Fräulein Berthas Schönheit hat auf beide