Magnetkompass im Flur der Schule
Der Posten „Flur" hatte seinen Standplatz beim Kompasshaus im Flur. Der dritte Posten war der Posten „Bootshafen“, der 500 Meter weiter bei den Rettungsbooten Wache schob. Da war es ruhig, und eine Zigarette war möglich. Alle 80 Minuten wechselte man sich ab. Das erlaubte es den Außenposten, sich etwas aufzuwärmen. Wir befanden uns im Oktober. Anfangs war das Wetter noch gut. Aber je näher Weihnachten rückte, desto kälter wurden die Tage und das Postenstehen umso härter. Wir gingen Wache von 8 Uhr morgens bis 8 Uhr abends. „Freut euch! Auf dem Schiff müsst ihr auch nachts raus!“, hieß es zum Trost. Die Posten waren vom Unterricht befreit, mussten aber zusehen, wie sie den Stoff nachholten. Der einzige, der keine Wache schieben musste, war Gerd. Er hatte die breitesten Schultern von uns allen und war der Größte. Er war ein guter Kamerad, lachte gern. Er war zum Heizer unserer Schiffer-Schule ernannt worden, weil er Erfahrung im Umgang mit Heizungen hatte (er hatte als Installateur gearbeitet). Da konnte er auch mal den Unterricht verlassen, um nachzulegen. „Die Maschine muss laufen!“ Dort unten vor dem Kokshaufen rauchte er seine Zigaretten und las Romane.
Unsere „Dienstkleidung“ bestand, (von oben nach unten) aus der Pudelmütze (Pudel genannt). Hatten wir sie nicht auf dem Kopf, musste sie vorne in der Tasche unserer Latzhose stecken, die unser Hauptbekleidungsstück war. Anfangs kamen wir uns wie Pinguine vor, wenn wir uns in dem blauen Teil sahen. Das Gute daran war die Anzahl der Taschen. Die Enden der Träger mussten wir nach jedem Waschen neu annähen. Sauberes Taschentuch war Pflicht. Alle trugen wir das gleiche khakifarbene Hemd, die oberen zwei Knöpfe offen. Auf der linken Schulter war das Wahrzeichen der Seemannsschule Hamburg aufgenäht: ein wappenartiges Emblem, rot auf weiß, mit einem Kreuzknoten darauf und den Buchstaben SH (Seemannsschule Hamburg). Unter diesem Hemd trugen wir bei kaltem Wetter einen dunkelblauen Marinepullover mit Reißverschluss-Rollkragen. Dieser Reißverschluss musste ebenfalls offen sein, und der Kragen des Pullovers musste genau auf dem Hemdkragen aufliegen. Die Wahl der Unterhose war frei, vorausgesetzt, unser Name war angenäht; ob von Muttern oder Freundin war egal. Unsere nicht etikettierten Füße steckten in etikettierten Socken und diese in schwarzen Lederturnschuhen mit heller Sohle. So waren wir ausgestattet, um uns auf das Abenteuer Seefahrt vorzubereiten.
Steuerbordwache
(v.l.n.r: Klosterreit, Bendick, Jensen, Knaak, Danhel, Förster, Kohlmorgen - Endres, Ciboch, Kammel, Jahnke, Bergmann, Feurig, Giebel, Klötzer, Buck – Hallmann, Kammerlander, Doleisch, Kessler (‚Morphi‘), Batliner
Gleich zu Anfang ging es darum, aus unseren Reihen den Wachältesten zu wählen. Der Vorschlag der Schulleitung war Hans für die Steuerbordwache. Er war Stabsunteroffizier beim Bund gewesen. Er konnte ebenso gut Orders geben wie die Offiziere, war gewohnt, angebellt zu werden und in die andere Richtung weiterzubellen. Wir akzeptierten ihn in geheimer Wahl. Die Backbordwache entschied sich für Peter, der war ein großer Typ und sehr kollegial.
Backbordwache
(v.l.n.r: Lange, Müller, Lehner, Pursche, Sindermann, Rietz, Ostermann, Meier, Langstroh – Zimmermann, Tröndlin, Petri, Mommert, Techentin, Schade, Steincke, Räthke – Zink, Tschakert, Mandl, Szybalski, Strecker, Tschinkel
Kapitän Neugebauer, von gedrungener Person, war der Master next God, Herr über Sein und Nichtsein an unserer Schule. Er paradierte mit einem deutschen Schäferhund an kurzer Leine. Wir fragten uns, wer von den beiden der Bissigste war. Es hieß, er sei früher auf Segelschiffen gefahren, sogar als Kapitän. Er war sich seiner Aura von Autorität bewusst. Außer beim morgendlichen Rapport blieb er weitgehend im Hintergrund. Seine Frau, die wir selten sahen, erschien uns ein bisschen aufgetakelt. Wir vermuteten, dass sie im Hause die vier Streifen trug.
Den zweiten Rang bekleidete Erster Offizier Wulf. Er war es, der unsere ganze Mannschaft morgens dem Kapitän klar zum Rapport meldete. Er war es, der im Alltag die Schule leitete, sich auch um das Administrative kümmerte. Unterricht gab er nur beschränkt, meist bestimmte Fächer, wie Schiffskunde. Manchmal war er ein bisschen brummelig, doch wir mochten ihn.
Wir von der Steuerbordwache hatten Schönfeld als Ausbilder. Einen ehemaligen Hamburg-Süd-Fahrer, der aus familiären Gründen die Seefahrt gegen die Seemannsschule eingetauscht hatte. Er hatte einen sechsjährigen Sohn. Er besaß Autorität, war gerecht und konnte es sich leisten, Witze in den Lehrstoff einzubauen. Wir mochten ihn. Das Tragische war, dass gegen Mitte der Schulzeit seine Frau Selbstmord beging… Dann war da Möller, der Ausbilder der Mittelwache. Er machte den Springer, wenn einer der beiden anderen Offiziere ausfiel. Er war oft mit uns im Hafen, bei den Bootsmanövern. Der Ausbilder der Backbordwache war Peters. Er war ein richtiger Seemann. Er spielte Akkordeon und trank, war manchmal ein bisschen launisch.
Derjenige, der alle überragte, an Größe, Stimmkraft und Sprüchen war Bootsmann Papendieck, „mit über hundertjähriger Erfahrung“! Er war das Unikum der Schule. Schon lange in Rente, er war immerhin 72, tat er seinen Job mit Überzeugung und Spaß. Sein Hauptspruch, den wir mehrmals täglich zu hören bekamen, war: „Ein Seemann kann alles! Wiederhole!“ Laut seinen Erzählungen (wir bekamen einige zu hören während der drei Monate!) war er in Douala, Kamerun, lange Zeit Hafenmeister gewesen. Ihm unterstand damals ein Heer vor schwarzen Arbeitern, die er vielleicht nicht mit der Peitsche, aber doch mit strenger Hand regierte. In seinem Büro lag ein großer Steinklotz. Jeder der angestellt werden wollte, musste diesen als Prüfung hochheben. Oft seien diejenigen, die Arbeit suchten, nachts in sein Büro geschlichen, um zu versuchen, den Klotz zu heben. So hätten sie trainiert, bevor sie vorstellig wurden. Wie bereute er, diesen Steinklotz nicht in unserem Takelkeller zu haben! Da würde man schnell sehen, wer zur Seefahrt geeignet sei und er bräuchte sich nicht mit dieser Bande von Schlappschwänzen rumzuärgern!
Ausbildungsoffizier Peter Schönfeld
Oft entblößte er vor uns seine oberschenkeldicken Arme, zeigte uns seine Muskeln und sagte „Muscheln! Kann sehn?“ Er hatte Hände wie Pratzen, würde man in Bayern sagen. Wie Pranken und Tatzen in einem. Wie Unkraut-Ex. Wo die hinfassten, wuchs kein Gras mehr! Nichts liebte er mehr, als sich von uns zu einer Kraftprobe herausfordern zu lassen. Manchmal sogar gegen zwei gleichzeitig! Ob beim Armdrücken, beim Heben (er hob zwei von uns zugleich in die Luft), oder beim Begegnen im Flur (wer nicht auswich, landete an der Wand). „Muscheln, kann sehn?“ Und damit uns allen solche Muscheln wuchsen, damit aus uns Schlappschwänzen mal steife Seebären wurden, gab es morgens zum Frühstück „Muschelsuppe“. Das war Haferbrei mit Milch. Das mussten alle essen. „Keine Diskussion!“ Das war sozusagen unsere Grundspeise. Danach gab's noch belegte Brote.
In der Küche herrschte Frau Grewer. Große Klappe, derb in ihren Ausdrücken. Wir vermuteten, sie sei eine ehemalige Nutte. Ihre Zunge war einfach zu freiläufig, selbst für uns junge Kerle, die an Kraftausdrücken nie sparten. Samstags kochte sie ihre Wäsche in unserem Muschelsuppentopf! Diejenigen, die gerade Küchendienst hatten, waren baff, als sie das sahen. Mit dem Kochlöffel rührte sie ihre Wäsche und hängte sie dann draußen auf, was uns Anlass zu weiteren Phantasmen gab.
Morgens um halb sieben (im Sommer sechs Uhr) knallte die Zimmertür auf und das Licht ging an. „Reise, reise, reise (vom engl. „to rise“) nach alter Seemanns Weise! Ein jeder stößt den Nächsten an, der Letzte weckt sich selber!“ Dieser Weckruf stammte aus der Segelschiffszeit, als alle noch in Hängematten schliefen. Diese reichten immer nur für die Hälfte der Besatzung (Freiwache), aus Platzgründen. Die andere Hälfte war an Deck oder in den Masten beim Arbeiten. Da die Hängematten dicht an dicht aufgehängt waren, reichte es, die erste fest anzustoßen, diese stieß an die nächste etc. Der