NAVIGATION IST, WENN MAN TROTZDEM ANKOMMT
NICHTS MEHR WIRD SO SEIN WIE FRÜHER
VORM MAST
Vom Decksjungen zum Matrosen
Wolfgang Bendick
Impressum
Texte: © Copyright by Wolfgang Bendick
Umschlag: © Copyright by Lucia Bendick
Fotos: Wolfi, Peter, Helmut, Rudi
Erste Erscheinung, September 2016
Zweite Auflage (Taschenbuch), September 2019
Dritte verbesserte Auflage mit Fotos, September 2021
WIDMUNG
Für meine Eltern
Verdient haben sie es, bei den Sorgen die ich ihnen gemacht habe... (oder die sie sich gemacht haben...)
Vorwort zur neuen Auflage
Das große Echo, das mein Buch in den fünf Jahren seit seinem Erscheinen gefunden hat, hat mich bewogen, es nochmals zu überarbeiten und mit über 200 Fotos zu vervollständigen. Außerdem soll ein Glossar von rund 850 erklärten Stichwörtern dem Leser helfen, sich besser auf einem Frachtschiff in jener Zeit orientieren zu können. Denn die Seefahrt ist heute nicht mehr dieselbe. Die Passagierschiffe haben sich in schwimmende, luxuriöse Wohnblöcke und Freizeitparks verwandelt, die Nachfolger der Stückgutfrachter, die Containerschiffe gleichen bestenfalls einer Ansammlung von überdimensionierten, bunten Lego-Steinen. Alles ist gigantisch geworden. Dadurch ist auch die Ästhetik verschwunden.
Damit nicht alles in Vergessenheit gerät, soll dieses Buch eine bleibende Momentaufnahme im Album der Seefahrtsgeschichte sein. Alles ist im Wandel. Der Gigantismus wird an seine Grenzen geraten. Und, wer weiß, vielleicht wird die Zukunft uns wieder kleinere, lebendigere Schiffe bescheren und Häfen voller Arbeiter.
Früher handelte man nur mit Gütern, die es am Ort nicht gab. Jetzt lässt man woanders herstellen, was man selber auch machen könnte. Weil es billiger ist. Wie lange noch? Wann endlich wird Vernunft stärker sein als Profitgier und auch die Umwelt als ausschlaggebender Faktor einbezogen werden? Wann werden die Meere nicht mehr als Mülldeponie dienen, sondern ihre Reinheit von damals wiedergefunden haben?
Bis dahin, lieber Leser, viel Freude bei der Lektüre dieses Buches!
Im September 2021
MUSCHELSUPPE
Ich wollte zur See fahren. Ich musste zur See fahren! Ich weiß nicht, woher das kam. Hatten wir doch niemanden in der Familie, der mich mit diesem Virus hätte infizieren können. Schon in meiner Kindheit war mir das klar. Nur hatte ich schnell gemerkt, dass man mit den Erwachsenen, vor allem wenn sie die eigenen Eltern sind, nicht über alles sprechen darf. Sie tun alles mit einer Handbewegung ab oder mit den Worten: „Warte erst mal, bis du groß bist.“
Ich verbrachte meine Kindheit am Ufer des Halterner Sees. Für mich war es das größte Gewässer, das ich kannte, also gleichbedeutend mit dem Meer. „Das Meer ist aber viel, viel größer!“, sagten die Erwachsenen, „man sieht nicht seine Ufer!“ Aber wenn ich mich mit dem Kopf ganz nah an die Oberfläche bückte, war das andere Ufer verschwunden. Also war das doch das Meer, die großen Leute bemerkten das nur nicht.
Man kann sagen, dass ich die eine Hälfte meiner freien Zeit am Wasser verbrachte, die andere bei Bauer Nolte in Overath. Der bestellte mit Hilfe seiner Söhne seinen kleinen Hof. Nebenher arbeiteten sie noch in den Wasserwerken. Die schwere Arbeit wurde vom Pferd Fanny erledigt, manchmal holte man zusätzlich ein Pferd vom Nachbarn, hauptsächlich zum Pflügen oder um den Bindemäher zu ziehen. Sie nannten mich scherzend den „Verwalter“, was mich stolz machte. Vielleicht stand ich oft im Weg. Nahm aber an allen Arbeiten teil, weil auf einem Hof jede Hand, sei sie auch noch so klein, nützlich ist. Meine größte Freude war, mit dem Pferd zu arbeiten, seine Zügel zu halten, den Leiterwagen bei der Ernte zu lenken oder auf seinem Rücken zum Schmied zu reiten.
Irgendwas schwamm immer in meinem Meer. Die Wellen spülten alles irgendwann ans Ufer: Holzstücke, Flaschen, tote Schweine oder Fische, mit dem Bauch nach oben. Mit einem Stock suchte ich ein Stück Holz in dem Treibgut und lenkte es am Ufer entlang. Ich stellte mir vor, es sei mein Schiff. Es schwammen noch andere Schiffe auf dem See. Da waren einige Segelboote und Paddelboote, die meist an Wochenenden den See befuhren. Ein richtiges Schiff sei aber noch viel, viel größer, sagte man mir. Wie ein Haus, wie mehrere Häuser, wie eine Häuserzeile.
Die toten Schweine oder Fische waren für mich wie U-Boote. Ich hatte gehört, dass es Schiffe gab, die sowohl auf als auch unter Wasser fahren können. Kriegsschiffe. Krieg ist schrecklich, hatte ich aus den Gesprächen anderer gehört. Viele Menschen seien darin gefallen. Ich war auch schon oft gefallen. Aber meist war das nicht sehr schlimm. Trotzdem hatte das Wort Krieg für mich einen bedrohlichen Klang. Drum ließ ich die U-Boote, die außerdem erbärmlich stanken lieber da, wo sie waren. Ich fand ein Stöckchen und ein Stück Pappe. Daraus machte ich einen Mast und das Segel und rüstete mein Schiff damit aus. Es war bereit, um in See zu stechen. Es fehlte nur noch die Ladung. Ich besaß eine Sammlung von Spielzeugtierchen. Butter gab es damals nicht, oder sie war zu teuer. Wir aßen Margarine. Und beim Kauf eines Würfels gab es ein kleines Plastiktierchen dazu. Diese stellte ich auf das Deck meines Bootes. Und schob es mit dem Stock auf den See hinaus. So stellte ich mir die Arche Noah vor, wie sie von der Sintflut davongetrieben wurde. Erwachsene würden sagen, das sei ein Tiertransportschiff.
Mein erstes Boot
Zum vierten Geburtstag bekam ich ein richtiges Segelboot geschenkt. Zwar nur ein Spielzeug, bunt bemalt, aber mit einem Segel aus Stoff und einem Schwert. Ich merkte schnell den Unterschied zwischen meinem Brettschiffchen und dem Schwertboot. Das erste trieb nur weg, das andere bewegte sich vorwärts. Schwimmen konnte ich nicht. Wollte ich auch nicht lernen. Wozu auch? Ich wollte ja auf einem Schiff