Im Hof stand, wie schon berichtet, ein mehr als 20 Meter hoher Mast, an dessen Gaffel und Rah morgens die Flaggen gehisst wurden. Hinten dran war ein Ladebaum befestigt, mit einer Winde, wie auf einem Schiff. Diente dieser, um uns mit der Ladetechnik vertraut zu machen, so diente der Mast eher als Mutprobe. Wir durften ihn nur unter Aufsicht besteigen, angeblich, weil die Takelage nicht mehr sehr solide war. Als wir das erste Mal die Wanten hoch kletterten, wurde so manchem mulmig in den Knien. Morfi Pipifax schaffte es nur eskortiert von zwei Großen. Seine Beine waren zu kurz zum Steigen. Das Schwierigste war, auf die Saling zu steigen, um den Mast auf die andere Seite zu gehen und dann rückwärts wieder runter zur Mutter Erde. Wenn wir uns das Ganze dann mehr als doppelt so hoch vorstellten und noch schief dazu und in Bewegung, dann konnten wir uns in etwa denken, wie es auf den Seglern zuging! Alle mussten darüber. Ohne Mast kein Schiff! Kein Schiff ohne Mast.
Der Ausgang am Wochenende wurde etwas verlängert, wegen guter Führung. Bis zum Abendessen. Doch das dauerte nicht lange. Denn die Gelegenheit macht den Dieb, oder hier bei uns, den Säufer. Das wäre alles unbemerkt verlaufen, wie schon so oft. Doch die unfehlbare Schulleitung hatte beschlossen, die Zugangstüren für die Toiletten und Waschräume von 20 Uhr bis Mitternacht zuzuschließen. Auch für die Nichtausgeher. Wohl, damit wir unsere Blasen trainieren konnten. Was blieb uns anderes übrig, als durch die offenen Fenster in die Dachrinnen zu pinkeln. Ein paar Wochen blieb das unbemerkt, wenngleich es anfing, im Obergeschoss nach Latrine zu stinken. Je mehr man lüftete, umso mehr roch es...
„…mit sechzehn hat man noch Träume!“
Kritisch wurde die Situation erst, als ein paar von uns durch nächtliche Magenrevolten veranlasst (egal warum), sich in die Dachrinne übergaben. Nicht schlimm für das Dach. Das ließe sich mit ein paar Eimern Wasser klären. Es fiel leider etwas von unserem mit Bier verdünntem Mittagsessen in den Hof. Genau auf die Stufen des Haupteinganges, über die morgens die ganze Mannschaft, einschließlich Schulleitung, zum Rapport in den Hof ging. Skandal. Selbst der Schäferhund des Kapitäns geriet in Erregung, waren da doch noch ein paar schöne Brocken Sonntagsbraten drin! Da die Urheber sich nicht meldeten, sei es wegen Hirnausfalls, oder weil sie befürchteten, geschmissen zu werden, und weil die Verpetzer ausnahmsweise die Klappe hielten (vielleicht waren sie es, die keinen Alkohol vertrugen?), wurde die ganze Steuerbordwache, deren Schlafräume sich da oben befanden, bestraft. Da es gar nicht so viele Klos gab, die wir hätten putzen können, verdonnerte man uns alle zu einer Woche Geländeputzdienst. Somit wurde das Gelände um den Bootshafen und danach das um die Schule einer gründlichsten Reinigung unterzogen.
Im Speisesaal und im Hauptflur standen ein paar Schiffsmodelle unter Glasvitrinen. Wir drückten uns daran die Nasen platt, um alles genauestens zu betrachten, hatten doch viele, auch ich, noch nie ein richtiges Schiff gesehen. Wir stellten uns vor, wir seien darauf und schon auf See. Die drei Monate Schule waren wirklich eine lange Wartezeit! Es wurde das Gerücht verstreut, dass, wenn wir alle gute Noten hätten und uns gut benähmen, wir noch vor Weihnachten die Prüfungen hätten und frühzeitig nach Hause fahren könnten. Nicht erst am 5. Januar, wie vorgesehen. Mich berührte das nicht, wollte ich doch gleich hinterher aufs Schiff gehen.
Unsere Meute war eine Zusammenfassung aller möglichen Berufe und Schulabschlüsse. Eine knappe Hälfte der Schüler war vorher schon berufstätig gewesen: Bankkaufmann, Reedereikaufmann, Installateur, Angestellte, 2 Soldaten.... Die andere Hälfte kam, wie ich, direkt von der Schule, manche mit, manche ohne Abschluss. Einige waren helle, aufgeweckt, andere etwas langsam, einfältig. Sie forderten geradezu heraus, verarscht zu werden. So wie Klaus. Franz, unser Oberwitzbold, hatte einen Regenwurm gefunden. Er war aus Ostdeutschland. Und da es dort an manchem mangele, hätte man den Regenwurm zu einer Spezialität entwickelt. Frikadellen würden daraus hergestellt. Sehr bekömmlich und nahrhaft, sollte man ihn mal der Köchin vorschlagen, vielleicht um die Muschelsuppe zu verbessern! Klaus staunte. Franz tat, als verschluckte er einen. Mmmh, war der gut! „Lass mich auch mal“, sagte Klaus und probierte einen. Er fand, dass sie nicht so übel sind, und aß gleich noch welche. Danach erzählte er die Geschichte überall herum. Sie kam auch an die Ohren der Schulleitung. 1 Woche Kartoffeln schälen für beide. Das war der Spaß aber wert gewesen! Klaus hieß seitdem „Würmi“.
Da war Kalli, ein etwas komischer Kerl. Nicht nur, dass er sich hauptsächlich von seinen Fingernägeln ernährte (bei unserer Diät vielleicht eine nützliche Beigabe), sondern er war auch sehr sparsam mit Wasser. Eigentlich eine gute Eigenschaft auf See. Doch mit der Zeit nahm er einen etwas herben Geruch an. Man roch ihn schon, bevor er überhaupt da war. Das brachte unsere „Spezialeinsatztruppe“ dazu, ihn nicht unter die Lupe, sondern unter die Dusche zu nehmen. Mitsamt Klamotten! Von jetzt an musste er regelmäßig unter Aufsicht duschen. Wir hofften, so würde er seine Gewohnheiten ändern.
Weihnachten rückte näher. Außer den Prüfungen musste Großreinschiff gemacht werden. Der Speisesaal wurde vollständig ausgeräumt. Mit Glasscherben zogen wir den Parkettboden ab, bis er nur noch blankes Holz war. Das Essen musste improvisiert werden. Dann Bohnern und Plockern. Diese Arbeit nahm einen ganzen Tag in Anspruch. Die Fenster im ganzen Haus wurden gewaschen und anschließend mit Zeitungspapier blank gewienert. Das Kompasshaus im Flur wurde mit Sidol auf Hochglanz gebracht. Die Flure wurden gescheuert, der Keller umgekrempelt. Fast hätten wir noch im Kokskeller Staub gewischt! Zu Glück verlangte das niemand.
Nichts entkam unserem Sauberkeitsrausch. Jeder gab sein Äußerstes, sowohl beim Putzen, als auch in den Prüfungen. Auch die Offiziere machten mit. Gegen Ende der Schulzeit kam ein Brief von der Reederei ‚Hamburg-Süd‘ und ein anderer von den ‚Deutschen Afrika- Linien‘. Der Erste las sie vor. Jeder sagte das Gleiche: Beide Reedereien hatten ein Schiff umgerüstet zum Ausbildungsschiff. Sie suchten Decksjungen, die mit Ausbildungsvertrag anheuern wollten... Für erstere war das Fahrtgebiet Südamerika, für die andere besagte es ja schon der Name: Afrika. Nach kurzem Überlegen entschied ich mich für die Afrika-Linien, weil deren Schiff, die „Natal“ schon am 6. Januar auslaufen sollte. Hans-Dieter, ein Wache-Kamerad, war mit von der Partie. Es war die Aussicht auf 6 Monate Fahrtzeitverkürzung bis zum Matrosen, die mich lockte und die Tatsache, dass es ein Ausbildungsschiff war. Ich wollte möglichst viel lernen, hatte ich doch etwas gefunden, für das ich mich wie geboren fühlte: die Seefahrt.
Unser Ausbilder und die Zukunft der Seefahrt…
Eigentlich waren die gesteckten Ziele erreicht: Wir hatten alle die Prüfungen bestanden, hatten den Rettungsbootsschein in der Tasche, und Morfi Pipifax brachte 51 Kilo auf die Waage! Die Schule glänzte mehr als damals, als sie höhere Töchter beherbergte. Der Wachoffizier holte den Dachbodenschlüssel. Wir stürzten uns auf unsere Koffer und stopften sie voll mit den gestern noch säuberlichst gefalteten Wäschestücken. Die Grewer nahm ihre vorsegelgroßen Schlüpfer von der Leine, wir das letzte Mal die deutsche Flagge.
Wir waren frei!
Auf Papendiecks Wahlspruch vertrauend „Ein Seemann kann alles“ gingen wir endlich auf See.
MS NATAL
Baujahr 1953, Deutsche Werft, Hamburg.
6279 BRT, 8640 to Tragfähigkeit.
Länge: 131,7 m, Breite: 17,3 m, Tiefgang: 7,5 m.
6-Zylinder Dieselmotor MAN,