»Du hast eine ziemlich schlechte Meinung von mir, Schwesterherz«, sagte Jill empört. »Ich stehle nicht, wenn es nicht unbedingt nötig ist.«
Jill wusste, dass sie sich selbst belog. In Wahrheit liebte sie es, wenn sie sich etwas nur für sich allein gönnen konnte. Einer Zuckerstange oder Zigarette war sie nie abgeneigt. Nicht jeder Penny, den sie ergaunerte, kam der gesamten Familie zugute.
Jill malte mit den Fußspitzen Muster in den staubigen Boden. Sie überließ das Verkaufen ihrer Schwester. Stattdessen machte sie sich Gedanken darüber, wie sie den verlorenen Schilling wiederbeschaffen könnte.
Nach einer endlos langen Weile, in der Jill ihre Schwester beim Verkaufen der Kerzen beobachtet hatte, riss Jill schließlich der Geduldsfaden. »Dana, ich gehe noch einmal in die Stadt hinaus«, sagte sie. Es war keine Frage oder Bitte. Dana wusste, dass Jill ohnehin ihren Kopf durchsetzen würde. Was sollte sie auch weiter hier herumstehen und Maulaffen feilhalten?
Ihre Schwester verengte die Augen und presste die Lippen aufeinander. »Geh nur, du bist mir ohnehin keine Hilfe.«
Jill warf ihr einen entschuldigenden Blick zu und wandte sich ab. Sie wollte ins Stadtzentrum zurückgehen, vielleicht sogar zum Hafen. Wenn sie Glück hatte, traf sie Firio dort. Sie hatte ihn seit Tagen nicht mehr gesehen. Sicherlich würde er sich freuen, wenn Jill ihm ein wenig Gesellschaft leistete.
Sie erreichte die Hauptstraße und mischte sich unter das geschäftige Volk. Kinder mit Zöpfen und Schürzen spielten nahe der Bordsteinkante mit Glasmurmeln, gut gekleidete Herren mit Hüten und Anzügen eilten an ihr vorbei. Alle Geschäfte waren geöffnet, gemusterte Markisen überspannten die Gehsteige, bunte Werbeschilder prangten über und in den Schaufenstern. Die reich mit Stuck verzierten Häuser verfügten über mehrere Stockwerke. Frauen schüttelten Kissen und Decken hinter geöffneten Fenstern aus. Hier wohnten die Bürger, die mehr besaßen als zwei Bienenstöcke und ein heruntergekommenes Bauernhaus. Hier roch es auch nicht nach Unrat.
Jill erreichte einen großen Platz, in dessen Mitte ein Denkmal die Köpfe der Menschen überragte. Es stellte einen Reiter auf einem Pferd dar. Sein Umhang überdeckte den Rücken des steinernen Tieres beinahe vollständig. Er trug ein Schwert an seiner Seite, die Augen blickten streng nach vorn. Jill wusste nicht, wen die Statue darstellte, denn sie konnte die metallene Gedenkplatte auf dem Sockel nicht lesen. Sie war nicht einmal ein Jahr lang zur Schule gegangen, bevor sich ihre Eltern das Schulgeld nicht mehr leisten konnten. Dana war in der Lage, flüssig zu lesen und zu schreiben, doch für die Ausbildung der zweiten Tochter hatte das Geld nicht mehr gereicht.
Jill suchte mit den Augen die Parkbänke ab, die zu Füßen des Reiters den Platz säumten, doch Firio war nicht hier.
Sie setzte ihren Weg zum Hafenviertel fort. Es war ein weiter Weg, sie brauchte beinahe eine ganze Stunde, um endlich die Wasseroberfläche am Horizont aufblitzen zu sehen. Der salzige Geruch des Meeres wurde zunehmend dominanter, je näher sie dem Ufer kam. Hier waren die Gebäude niedriger, große Hallen rahmten die Hafenpromenade ein. Einige Schiffe lagen vor Anker, darunter auch ein imposantes Dampfschiff. Jill stellte sich an eine Kaimauer und beobachtete, wie Männer das Schiff beluden. Fässer wurden hinein gerollt, auch Kisten, Teppiche und Pferde bugsierte man über die Planken. Sie fragte sich, wohin das Schiff fahren würde. Seit ihrer Geburt war Jill nie weiter als bis in die Nachbarstadt gelangt, aber sie hatte Landkarten gesehen, die ganz England und sogar Europa darstellten. Sicher würde ihr nie die Ehre zuteilwerden, einmal mit einem Dampfschiff fahren zu dürfen.
Sie ließ den Blick über die Wasseroberfläche schweifen. In einiger Entfernung glitzerten die blank polierten Scheiben der Villen auf Falcon’s Eye, der Insel der Adligen, in der Sonne wie Diamanten. Nicht einmal bis dorthin war Jill in ihrem Leben je gelangt, obwohl dies sicher keine Schande war. Man bewachte die Insel pedantisch, und Jill kannte niemanden persönlich, der sie je betreten hätte. Man erzählte sich, dass die Behausungen dort durchweg über elektrischen Strom verfügten, beinahe jeder Einwohner besaß ein Automobil.
Sie riss ihren Blick von der Insel los und seufzte. Sie erschrak, denn als sie sich umdrehte, stand Firio direkt hinter hier.
»Hallo Jill, ich wollte dich nicht erschrecken.« Er strahlte sie freundlich an, sein bunter Anzug leuchtete in der Sonne.
»Das hast du aber!« Jills Miene hellte sich auf.
Firio grinste und ein Satz strahlend weißer Zähne lugte durch seinen dichten Bart hervor. »Wie siehst du denn aus?« Er musterte sie von oben bis unten. »Für wen hast du dir die Haare gekämmt und ein Kleid angezogen?« Er stieß sie freundschaftlich in die Seite.
»Ich wollte mit meiner Schwester auf dem Markt Kerzen verkaufen, aber ich habe mich schrecklich gelangweilt dort.«
»Ach Jill, du hast doch ganz andere Talente. Lass uns etwas musizieren gehen. Ich kenne einen tollen Platz.«
Firio klemmte sich sein Akkordeon unter den Arm und ging beschwingt die Straße zurück ins Innere der Stadt. Jill folgte ihm achselzuckend. Sie hatten sich tagelang nicht gesehen, aber Firio fragte niemals nach ihr, auch fragte Jill niemals nach seinem Verbleib oder Befinden. Es war eine so unbefangene Freundschaft, die sie nicht mit lästigen Fragen beschatteten. Firio war Straßenmusiker, aber für Jill war er ein Lebenskünstler. Er nahm die Dinge, wie sie waren. Sie wusste nicht einmal wie alt er war, aber sie schätzte ihn auf Mitte dreißig. Seit zwei Jahren verbrachte sie häufig Zeit mit ihm.
Er bog in eine kleine Gasse ein, deren Ende direkt in die große Hauptstraße mündete. An der Ecke befand sich eine Bibliothek, und direkt davor blieb Firio stehen.
»Hier haben die Menschen noch einen Sinn für die Kunst«, sagte er und begann sogleich damit, ein Lied auf seinem Akkordeon anzustimmen. Jill hätte sich gern mit ihm unterhalten, aber Firio war so unbeständig wie das Wetter im April. Selten konnte man ihn zu einer ernsthaften Diskussion bewegen, aber wenn es diese Momente einmal gab, bemerkte Jill, wie intelligent und gebildet er war. Sie fragte sich, wann er sich für dieses Leben entschieden hatte. Sie wusste, dass er allein in einer kleinen Scheune wohnte. Die Musik war alles, was er hatte und auch sein einziger Verdienst.
Die ersten Menschen warfen Firio einige Münzen vor die Füße. Er bedankte sich und schenkte den Leuten ein strahlendes Lächeln. Ihn interessierte nicht, wie jemand aussah oder woher er kam, das imponierte Jill am meisten.
Als sein erstes Lied endete, wandte er sich an Jill. »Möchtest du nicht zu meinen Liedern singen? Du möchtest doch sicher auch etwas verdienen.«
»Ach Firio, ich kann nicht gut singen.«
»Na und? Ich kann auch nicht gut Akkordeon spielen.« Er zwinkerte ihr zu.
Schließlich ließ Jill sich doch noch dazu hinreißen, das ein oder andere Lied mit ihm anzustimmen. Erst als die Schatten bereits länger wurden, verabschiedeten sie sich voneinander. Jill hatte genügend Geld verdient, um die umgestoßene Milch zu ersetzen, sogar für einen Butterkuchen müsste es reichen. Sie trat den Heimweg an und fragte sich, wie viel Geld Dana wohl verdient haben mochte.
Wahrscheinlich versäuft es unser Vater ohnehin.
»Du könntest zur Abwechslung ein freundlicheres Gesicht machen«, sagte Dana und biss in eine Scheibe Brot. Jill rührte gedankenverloren in einer lauwarmen Tasse Tee. Den anderen Arm benutzte sie, um ihren Kopf zu stützen. Sie lehnte mit dem Oberkörper halb auf der Tischplatte. Es war Sonntag, trotzdem war Jill heute Morgen schon früh aus dem Bett gefallen, weil Dana laut mit dem Geschirr geklappert hatte. Der Vater lag noch immer auf dem Sofa in der Stube, er hatte die Nacht in einer Kneipe verbracht.
»Mir ist heute nicht nach freundlich schauen«, knurrte Jill. »Ich habe mich mit kaltem Wasser gewaschen, wie sollte ich da gut gelaunt sein?«
Dana schüttelte missbilligend den Kopf. »Das bist du doch selbst schuld. Das Feuer im Ofen brennt, du hättest dir Wasser heiß machen können.«
Jill schnaubte verächtlich. »Noch früher aufstehen?« Ein scheußlicher Gedanke.
Dana zuckte nur mit den