Das Licht im Inneren der Halle flackerte, gelegentlich drangen Wortfetzen oder Gelächter an Rays Ohren. Es dauerte keine halbe Stunde, als sich erneut etwas auf der Straße bewegte. Ray lief ein kalter Schauder über den Rücken. Er krallte sich in den Stuck der Gebäudemauer, bis sich seine Fingerknöchel weiß färbten. Sein Blut schien zu kochen, als er die drei Gestalten beobachtete, die lautlos über die Straße schwebten. Ihre Bewegungen waren schnell, schneller als die der Menschen, und trotzdem von einer Eleganz wie man sie nur bei Raubkatzen findet. Sie trugen lange Mäntel, deren Kapuzen sie tief ins Gesicht gezogen hatten. Sie sahen sich kurz nach allen Seiten hin um, bevor sie ebenfalls durch das zerbrochene Fenster in die Halle eindrangen. Ray knurrte und knirschte mit den Zähnen.
»Da sind sie. Ich will ihr Blut riechen«, sagte er.
Er wollte gerade mit einem gewaltigen Satz vom Dach springen, als Lesward ihn an der Schulter zurück hielt.
»Lass das. Wir wollen da drin keine Panik. Wir warten, bis sie wieder heraus kommen. Lass uns hoffen, dass sie wenigstens den Anstand besitzen, den Menschen anschließend das Gedächtnis zu löschen.«
Wenn sie sie nicht vorher töten, fügte Ray in Gedanken an. Er spürte Wut in sich aufschäumen. Er suchte mit schnellen Augenbewegungen die Bäume und Gebäude rings um die Halle ab. Irgendwo dort hockten sein Vater und die beiden anderen Krieger. Nichts rührte sich. Scheinbar warteten sie auf Leswards Befehl.
Ein spitzer Schrei drang aus dem Inneren der Halle. Danach rumpelte es. Rays Muskeln verhärteten sich, Schweiß trat auf seine Stirn. Lesward saß noch immer regungslos neben ihm, die Beine über die Dachkante baumelnd. Als es abermals rumpelte und jemand hustete, hielt es Ray auf seinem Posten nicht mehr aus. Er stieß sich von der Mauer ab und landete beinahe lautlos auf dem Bürgersteig.
»Bist du verrückt? Komm sofort wieder her«, krächzte Lesward mit gedämpfter Stimme. Ray ignorierte ihn. Er tastete nach den beiden Säbeln, die an seinem Gürtel baumelten und schlich auf das zerbrochene Fenster der Halle zu. Die Reste der Fensterscheiben waren staubblind. Ray spähte durch das Loch. Eine kleine Laterne stand in einiger Entfernung auf dem Boden der Halle. Einer der Anhänger des befeindeten Vampirclans hatte den Arm um die Schultern einer Frau gelegt, ein anderer lieferte sich ein Gerangel mit einem der jungen Burschen.
Rays empfindliche Ohren vernahmen einen leisen Pfiff hinter ihm. Blitzartig drehte er sich um, konnte aber nichts sehen.
»Hier oben«, flüsterte eine Stimme.
In einer der Pappeln hockte sein Vater auf einem Ast. Auch seine Augen glühten gelblich. »Was machst du da unten? Willst du uns verraten?« Er zog die Augenbrauen verärgert zusammen.
Ray schüttelte den Kopf. »Ich kann das einfach nicht mit ansehen.« Er wandte sich ab und machte sich daran, die Halle durch das zerbrochene Fenster zu betreten. Hinter ihm verspürte er einen Luftzug, dann lag eine Hand auf seiner Schulter. Sein Vater war ihm gefolgt. »Du gehst dort nicht alleine hinein. Ray, wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du vorsichtiger sein musst. Deine Starrköpfigkeit wird dich eines Tages umbringen.«
Ray ließ sich von seinem Vorhaben nicht abbringen. Sein Vater stieß nur ein kurzes Knurren aus, zog ein Klappmesser aus seiner Tasche und folgte ihm.
Die Halle war groß, und bis auf ein paar Fässer und Kisten, die überall verteilt herum standen, auch vollkommen leer. Ray zog seine Säbel und stürzte sich wütend auf den Vampir, der die Frau belästigte. Sie kreischte, als sie die Waffen sah. Als sie Ray erblickten, machten zwei der drei Vampire einen unmenschlich hohen Satz, hangelten an der Deckenkonstruktion entlang, traten ein weiteres Fenster ein und schwangen sich nach draußen. Ray versuchte nicht, ihnen zu folgen. Er war sich sicher, dass Lesward sich um sie kümmern würde.
Ray griff nach dem Arm des verbliebenen Kerls. Zu seiner Überraschung schien sich dieser nicht einmal wehren zu wollen. Stattdessen zeigte er ihm ein breites Grinsen. Einer der jungen Menschenmänner rannte panisch zum Ausgang, stieß auf seinem Weg aber ein Fass um. Sofort stieg Ray der Geruch von Schwarzpulver in die Nase.
»Pass auf!« Die Stimme seines Vaters klang angstverzerrt. Ray hatte ihn niemals panisch erlebt. Der Vampir, der bis dahin immer noch die junge Frau festgehalten hatte, ließ sie los und griff mit der freien Hand in die Innentasche seiner Jacke. Ray erwartete, dass er einen Revolver zog, deshalb holte er mit seinem Säbel aus. Noch während sich die Klinge in den Hals seines Feindes bohrte, erkannte Ray, dass er keine Waffe, sondern ein kleines Gefäß in der Hand gehalten hatte. Die Szene spielte sich in unendlicher Langsamkeit vor Rays Augen ab. Er hörte, wie sein Vater hinter ihm schrie: »Komm da weg!«
Es war zu spät. Das Glasgefäß fiel zu Boden. Erst jetzt begriff Ray, was geschehen war. Der Vampir hatte die Krieger in eine Falle gelockt, und Ray war geradewegs hinein getappt. Nitroglycerin! Zu dumm, dass die Märchen von der Unsterblichkeit von Vampiren nicht ganz der Wahrheit entsprachen.
Das nächste, an das er sich erinnerte, waren die gewaltigen Schmerzen in seinem Gesicht und seiner linken Brustseite. Er riss die Augen auf. Er wusste nicht, wie er an die Kaimauer geraten war, aber direkt neben ihm schlugen die Wellen gegen das Ufer. Ein entsetzlicher Pfeifton in seinem Kopf übertönte jedes andere Geräusch. Er schmeckte sein eigenes Blut auf der Zunge. Als er den Kopf drehte, klaffte dort, wo sich die Lagerhalle befunden hatte, ein Loch in der Häuserreihe. Plötzlich dämmerte ihm, was geschehen war. Der Sprengstoff hatte ihm den Körper zerfetzt. Der letzte Gedanke, bevor die erlösende Ohnmacht in einhüllte, galt seinem Vater.
Kapitel 1
Fünfzig Jahre später
Sie wollte ihn töten. Ja, sie verspürte den wahrhaftigen Drang, hinaus zu gehen und ihm das Genick zu brechen. Jeden Morgen dasselbe Theater! Dieser grausame Lärm, der auf ihre Nerven einhackte, weckte Aggressionen in Jill.
Sie zog sich die Decke über den Kopf und schrie aus voller Kehle in ihr Kissen. Es tat gut, seinem Ärger Luft zu machen. Sie musste sich wieder beruhigen, ansonsten würde der Hahn des Nachbarn keinen weiteren Sonnenaufgang erleben.
Es half nichts. An Schlaf war nicht mehr zu denken, egal wie fest Jill sich die Decken auf die Ohren presste. Wie konnten nur all die anderen Nachbarn dieses Kikeriki ignorieren? Das Biest würde alsbald jedenfalls nicht aufgeben, Jill in den Wahnsinn zu treiben, deshalb setzte sie sich schlaftrunken im Bett auf. Draußen war es noch fast dunkel. Sie hatte sicherlich nicht mehr als drei Stunden geschlafen. Sie verfluchte sich dafür, die halbe Nacht durch die Wohnviertel geschlichen zu sein, nur um sich den Inhalt halb geleerter Bierflaschen einzuverleiben, die die feiernde Bevölkerung an einem Freitagabend achtlos weggeworfen hatte.
Ihr Kopf schmerzte. Jill strich sich die zotteligen Haare aus dem Gesicht, stieß einen missmutigen Seufzer aus und schlug die Decke beiseite. Dann stand sie auf, schlüpfte in ihre zerschlissenen Pantoffeln und taumelte zur Tür. Sie trat auf den Flur hinaus und lauschte. Aus dem Nebenzimmer drangen keine Laute, ihre Schwester schlief noch tief und fest. Unten aus der Stube hörte Jill das laute Schnarchen ihres Vaters. Vermutlich war er wieder betrunken zu Bett gegangen.
Es war kalt im Haus. Dana musste vergessen haben, am Abend den Kachelofen neu zu bestücken. Wenn ihr Vater erwachte, würde es ein Donnerwetter geben.
Jill zog sich ihr Nachthemd enger um die Schultern und stieg die knarrende Treppe hinunter in die Küche. Sie entzündete eine Petroleumlampe und schlüpfte in