Kapitel 4
Gerade als Hansen die Tür seines Büros aufschließen wollte,
hörte er, dass jemand seinen Namen rief. Er drehte sich um und erkannte Richard Hellhausen, den Kriminalrat des Präsidiums und sein Chef. Der siebenundfünfzigjährige leicht untersetzte Mann trug wie immer einen tadellos sitzenden Anzug. Das dunkelbraune, von leicht grauen Strähnen durchzogene Haar, war perfekt frisiert. Und im Gegensatz zu ihm selbst, war sein Chef rasiert und machte schon alleine deshalb rein äußerlich einen deutlich besseren Eindruck, als er. Hellhausens Gesichtsausdruck verriet Hansen, dass der Kriminalrat schlechte Laune hatte.
»Morgen Karl. Du siehst ziemlich geschafft aus. Hast du letzte Nacht wieder durchgearbeitet?«, fragte Hellhausen eher rhetorisch.
»Ich hätte ohnehin nicht mehr schlafen können, nachdem ich den Tatort verlassen habe. Also habe ich die Zeit genutzt und ein wenig gearbeitet«, antwortete Hansen.
»Und wo kommst du jetzt her?«, erkundigte sich der Kriminalrat skeptisch. »Ich habe dich mehrfach vergeblich in deinem Büro gesucht.«
»Und jetzt hast du mich ja auch gefunden. Ich war in der Innenstadt. Frühstücken, wenn du es genau wissen willst. Das wird ja wohl noch erlaubt sein, wenn ich mir schon die halbe Nacht hier um die Ohren schlage«, erwiderte Hansen leicht gereizt angesichts des scharfen Untertons in Hellhausens Stimme. »Ich wollte gerade meine Notizen für die Frühbesprechung holen. Warum hast du mich gesucht?«
»Das kannst du dir doch wohl denken, oder? Verdammt noch mal Karl, wir brauchen langsam Ergebnisse bei den Ermittlungen. Der Staatsanwalt hängt mir im Nacken, von der Presse mal ganz zu schweigen.«
Sag mir mal was Neues, dachte Hansen.
»Du klingst geradeso, als ob wir hier nur Däumchen drehen würden«, entgegnete er so ruhig, wie er nur konnte. »Und du weißt ganz genau, dass das nicht der Fall ist!«
»Natürlich weiß ich das. Es war ja auch nicht so gemeint, wie es sich vielleicht angehört hat. Aber mittlerweile haben wir es mit drei Mordopfern zu tun und ihr habt immer noch keine brauchbare Spur. Und seit heute Morgen setzt mich dann auch noch der Polizeipräsident unter Druck. Er erwartet, rate mal, vorzeigbare Ergebnisse. Und um ehrlich zu sein, erwarte ich das allmählich auch von euch! Mensch Karl, drei Wochen und noch immer keine heiße Spur. Ich weiß nicht, wie lange ich euch da noch den Rücken freihalten kann. Das LKA wartet geradezu darauf, dass es hier hereinspazieren darf.«
»Das weiß ich doch alles, das will natürlich keiner von uns Richard. Wir werden die gesamten Ermittlungen noch einmal ganz neu aufrollen. Eine andere Möglichkeit sehe ich momentan nicht. Ich werde dem Team gleich mitteilen, wie ich mir das vorstelle.«
»Gut. Und bitte entschuldige, dass ich meine schlechte Laune an dir ausgelassen habe. Es war nicht so gemeint.«
»Entschuldigung angenommen«, sagte Hansen mit einem versöhnlichen Lächeln.
»Um elf Uhr ist übrigens eine Pressekonferenz. Ich möchte, dass du daran teilnimmst.«
»Ich werde es einrichten, wenn du darauf bestehst. Und im Übrigen kannst du mir glauben, dass ich als leitender Ermittler genauso unglücklich über den Stand der Ermittlungen bin, wie du ...«
»Ich weiß Karl, ich weiß. Ich fürchte nur, dass euer Bestes im Moment nicht gut genug ist. Ich erwarte dich um elf Uhr im Presseraum«, sagte Hellhausen und ging.
»Euer Bestes ist nicht gut genug«, äffte Hansen Hellhausen leise nach. Aber er wusste ja, dass der Kriminalrat recht hatte. Er holte seine Notizen und machte sich auf den Weg zum Besprechungsraum, wo sich außer seinem Partner Stefan Riedmann noch kein anderer Kollege eingefunden hatte. Er war das jüngste Mitglied seines Teams und bekannt für seinen Ehrgeiz. Riedmann hatte es mit seinen gerade einmal vierunddreißig Jahren zu Hansens Stellvertreter gebracht. Die Beförderung zum Hauptkommissar war wohl nur noch eine Frage der Zeit. Mit seinen ein Meter zweiundachtzig überragte er Hansen um ein paar Zentimeter. Und im Gegensatz zu seinem Vorgesetzten war er eine Sportskanone. Er joggte und ging regelmäßig ins Fitnessstudio. Sein dunkelblondes, ehemals schulterlanges Haar war erst vor ein paar Wochen einer modischen Kurzhaarfrisur gewichen. Obwohl er sehr attraktiv war, fristete er sein Leben als Single, was Hansen nicht nachvollziehen konnte.
»Morgen Stefan«, begrüßte Hansen seinen jungen Kollegen freundlich, als der Hauptkommissar den Besprechungsraum betrat.
»Guten Morgen, Chef«, entgegnete Riedmann. »Geht’s dir gut? Du siehst ein bisschen fertig aus, wenn ich das so sagen darf!«
»Nachdem ich den Tatort verlassen hatte, hätte ich sowieso nicht mehr schlafen können. Deshalb habe ich versucht, die Zeit sinnvoll zu nutzen und mir noch mal ein paar Gedanken über die bisherigen Ermittlungen gemacht. Nach meinem Dafürhalten müssen wir mit unseren Recherchen noch einmal ganz von vorne anfangen und nach neuen Ansätzen suchen. Aber lass uns das vertiefen, wenn Beck, Marquardt und Mertens hier sind.«
Kaum, dass Hansen den Satz ausgesprochen hatte, betrat das Trio auch schon den Besprechungsraum.
Hansen kannte den dreiundvierzigjährigen Markus Beck bereits seit zwölf Jahren. Der verheiratete Vater von zwei Kindern galt im Gegensatz zu seinem Partner Jens Marquardt als grundsolide. Vier Jahre jünger, ledig und mit Hang zur Selbstüberschätzung war Marquardt ein Schürzenjäger vor dem Herrn. Ständig wechselten seine diversen Liebschaften. Außerdem trank er gerne einmal ein Glas Bier zu viel. Hansen war froh, dass er ihm den introvertierten Beck zur Seite stellen konnte und hoffte seit geraumer Zeit auf einen Lerneffekt bei Marquardt.
Nachdem Hansen kurz auf die Ereignisse der vergangenen Nacht eingegangen war, fasste er ausführlich zusammen, welche Erkenntnisse er in der vergangenen Nacht zusammengetragen hatte. Dafür schrieb er einzelne Punkte an die Dokumentationstafel des Besprechungsraums. Anschließend diskutierten sie über die verschiedenen Punkte, die Hansen zusammengetragen hatte, und legten eine neue Strategie fest, um die Ermittlungen neu aufzurollen. Riedmanns Aufgabe war es, die Ermittlungen im Fall von Michael Kämper noch einmal neu anzugehen. Dabei sollte er sich vor allem auf das Umfeld des Studenten konzentrieren.
Beck und Marquardt wurden von Hansen angewiesen, sich mit dem aktuellsten Fall zu beschäftigen und Informationen über Mathias Bender zusammenzutragen. Hansen selbst wollte sich noch mal um den Mord an den Geschäftsmann Hans-Josef Körlings kümmern.
Um zehn vor elf beendete Hansen die Besprechung und machte sich auf den Weg zur Pressekonferenz. Er hasste PKs, wie sie im Umgangston genannt wurden, aber Hellhausen hatte ihm diesbezüglich keine Wahl gelassen. Die leidigen Fragen der Reporter kannte Hansen schon vom letzten Mal. Dass man es mit einem Serienkiller zu tun hatte, war ein gefundenes Fressen für die Aasgeier der Presse, man hatte förmlich ihre Schnäbel klappern