»Sie müssen der Straße weiter folgen und dann den Sonnenweg Richtung Autobahn hochfahren. Das letzte Stück müssen Sie dann zu Fuß gehen. Dann werden Sie Ihre Kollegen schon von Weitem sehen können.«
Hansen bedankte sich für die Wegbeschreibung, bevor er das Beifahrerfenster wieder hochfuhr. Im Rückspiegel erkannte er, wie ihm der junge Streifenpolizist nachschaute. Wie der Kollege vorhergesagt hatte, konnte Hansen schon aus der Entfernung die mobilen Flutlichtstrahler erkennen, die von der Spurensicherung aufgestellt worden waren, um den Tatort auszuleuchten. Hansen befürchtete, dass der Doppelmörder, der Aachen seit einigen Wochen in Angst und Schrecken versetzte, wieder zugeschlagen hatte. Der entlegene Tatort schien schon einmal ein Hinweis darauf zu sein. Bei dem Gedanken daran verkrampfte sich sein Magen.
Als der Maschinenbaustudent Michael Kämper ermordet wurde, hatten Hansen und sein Team noch nicht die geringste Ahnung gehabt, dass dieser Tat weitere Morde folgen sollten.
Kurze Zeit später fanden sie den Aachener Geschäftsmann Hans-Josef Körlings. Aufgrund der Spuren, die man am Tatort sicherstellen konnte, war schnell klar, dass Körlings von der gleichen Person ermordet worden war wie Kämper.
An beiden Tatorten hatte die Spurensicherung jeweils eine kleine bedruckte Visitenkarte gefunden. Auf der Vorderseite befand sich die Abbildung eines schwarzen Engels. Auf der Rückseite Teile eines Bibelzitats. Bei Kämper »Auge um Auge«. Auf Körlings Visitenkarte hatte »Zahn um Zahn« gestanden. Und die Morde wiesen noch eine Gemeinsamkeit auf. In beiden Fällen gab es bisher keinerlei weitere Anhaltspunkte, wenn man einmal vom Modus Operandi und der verwendeten Tatwaffe absah. Es gab nicht einmal einen Hinweis darauf, dass sich die beiden Opfer gekannt hatten.
Als Hansen die Absperrung des Tatortes erreicht und den Wagen abgestellt hatte, konnte er bereits Mertens und sein Team in ihren weißen Overalls bei der Arbeit erkennen.
Paul Mertens war Chef der KTU, der kriminaltechnischen Untersuchung. Er war im gleichen Jahr wie Mertens zur Truppe gelangt. Es gab kaum einen Fall, in dem die beiden nicht zusammengearbeitet hatten. Mertens war fast immer der Erste, der an einem Tatort eintraf. Und meistens auch einer der Letzten, der ihn wieder verließ. Hansen schätzte die Arbeit seines langjährigen Weggefährten sehr. Der Leiter der Spurensicherung besaß eine ausgeprägte Kombinationsfähigkeit und seine bisweilen unkonventionellen Methoden hatten schon oft wichtige Anhaltspunkte, die zur Aufklärung eines Falles beigetragen hatten, geliefert.
Während sich Hansen der Tatortabsperrung näherte, bereitete er sich schon innerlich darauf vor, was Mertens ihm wohl gleich erzählen würde. Und für den Fall, dass Hansen mit seiner Vermutung recht behalten würde, konnte er sich schon einmal darauf einstellen, unangenehme Fragen beantworten zu müssen. Erst seinem Chef und später der Presse.
***
»Schöne Scheiße«, sagte Mertens gerade in dem Moment als Hansen die Absperrung passiert hatte und auf den Kollegen zusteuerte.
»Ich freue mich auch sehr, dich zu sehen!«
Mertens ging wie immer nicht darauf ein.
»Der Platzregen hat alle Spuren weggespült. Dieser Hurensohn hat so ein Glück!«, echauffierte sich Mertens.
»Hm«, erwiderte Hansen, dessen Vorahnung sich ganz offensichtlich als richtig herausgestellt hatte.
»Mehr hast du dazu nicht zu sagen?«
»Das mit dem Regen ist ärgerlich, aber nicht zu ändern Paul. Ihr habt eine Visitenkarte bei dem Opfer gefunden?«
»Gut kombiniert, Sherlock. Ist schon im Beweismittelbeutel verstaut. Auf der Rückseite hat er den dritten Teil des Bibelzitates verwendet. Hand um Hand. Das Opfer heißt übrigens Mathias Bender. Er hatte einen Ausweis im Portemonnaie«, erwiderte Mertens. »Ich tippe bei der Tatwaffe auf eine neun Millimeter, wie bei den letzten beiden Morden auch. Wir haben bisher allerdings keine Patronenhülse gefunden. Wir können davon ausgehen, dass unser Täter sie mitgenommen hat. Also können wir erst nach der Obduktion mehr über die Tatwaffe sagen.«
»Gleiche Vorgehensweise, wie bei Kämper und Körlings?«, wollte Hansen wissen.
»Genauso ist es. Ein sauberer Schuss in die Stirn und einer direkt ins Herz. Der Mörder tötet wie ein Profi, aber das wissen wir ja bereits. Auch ansonsten handelt es sich um die gleiche Handschrift. Abgelegener Ort, Tatzeit um Mitternacht herum, brutale Hinrichtung und nicht zuletzt die Visitenkarte.«
»Wer hat den Toten gefunden?«
»Ein Rentner ist mit seinem Hund spazieren gegangen und hat ihn entdeckt. Hubert Jansen heißt der Zeuge übrigens. Der arme Mann konnte keine Nachtruhe finden, drehte eine Runde mit seinem Hund, und dann fand er den Toten. Er ist völlig fertig mit den Nerven. Die Kollegen haben seine Personalien aufgenommen und ihn dann nach Hause geschickt. Ich hoffe, das ist kein Problem für dich?«
»Schon in Ordnung«, seufzte Hansen nachdenklich. »Ich würde mir den Tatort gerne ansehen.«
»Ja, natürlich. Er liegt gleich dort drüben in der Böschung an der Autobahn«, zeigte Mertens in Richtung der Stelle. »Wo ist eigentlich der Rest der Truppe?«
»Wahrscheinlich da, wo ich jetzt auch lieber wäre – im Bett. Ich hatte heute das alleinige Glück Bereitschaftsdienst zu haben, da Riedmann bis gestern Abend noch auf einer Fortbildung war«, erwiderte Hansen. »Marquardt und Beck werde ich gleich informieren. Ich wollte erst einmal abwarten, was ich hier vorfinde«.
Gemeinsam steuerten sie auf den Fundort der Leiche zu, wo Mertens´ Kollegen noch eifrig hin- und herliefen.
»Der Abstand, in dem unser Mörder zuschlägt, wird immer kürzer. Das bereitet mir Sorgen«, meinte Hansen schließlich, nachdem er sich den Leichnam angesehen hatte.«
»Das stimmt. Und wenn wir ihn nicht bald schnappen, fürchte ich, dass wir schon bald an einem neuen Tatort stehen werden, um die Leiche eines vierten Opfers zu untersuchen.« Mertens holte tief Luft, bevor er weitersprach. »Mensch Karl, wo soll das alles noch hinführen? Manchmal frage ich mich ernsthaft, warum ich diesen Scheißjob überhaupt noch mache? In den letzten Jahren ist alles immer schlimmer geworden. Ich frage mich, ob wir mit unserer Arbeit überhaupt irgendetwas erreichen?«
Hansen sparte es sich, auf Mertens Worte einzugehen. Auch wenn er seinen Kollegen wirklich gut verstehen konnte. Aber jetzt war weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort, um eine Grundsatzdiskussion über den Sinn und Zweck der Polizeiarbeit zu führen. Sie mussten einen Serienmörder schnappen.
»Wissen wir außer dem Namen des Opfers noch mehr über den Mann?«
»Nicht viel. Er war siebenunddreißig Jahre alt und wohnte in Monschau. Von Beruf Krankenpfleger im Luisenhospital. Wir haben einen entsprechenden Dienstausweis in seiner Brieftasche gefunden.«
Nach seinem Gefühlsausbruch von eben hatte sich Mertens ganz offensichtlich wieder gefangen, stellte Hansen erleichtert fest.»Wurde das Auto des Opfers wieder in der Nähe abgestellt?«, wollte Hansen als Nächstes von Mertens wissen. Schon bei den ersten beiden Morden hatte man die Autos der jeweiligen Opfer ganz in der Nähe der Leichenfundorte gefunden. Offensichtlich wurden die Opfer von ihrem Mörder gezwungen, in ihrem eigenen Wagen zu ihrer Hinrichtung zu fahren.
»Die Kollegen suchen bereits danach. Wir haben gerade erst von der Leitstelle erfahren,