Der Polizeiobermeister hatte bereits die Personendaten der Vermissten mit den polizeilichen Datenbanken abgeglichen. Außerdem hatte er Krankenhäuser und Rettungsleitstellen kontaktiert. Damit konnte sich Anja all das sparen. Fischer hatte zwar auch schon mit Nadines Mutter gesprochen, dennoch wollte Anja die Frau persönlich befragen. Zudem hatte sie vor, mit weiteren Bezugspersonen zu reden, die Fischer noch nicht kontaktiert hatte. Das waren Angehörige, Freunde und Arbeitskollegen. Und schließlich wollte sie so schnell wie möglich die Wohnung der vermissten Frau durchsuchen.
Doch vordringlich war zunächst die unverzügliche Ausschreibung von Nadine Weinhart im Informationssystem der Polizei, kurz auch INPOL genannt. Auf diese Datei beim Bundeskriminalamt haben sämtliche deutschen Polizeidienststellen Zugriff. Sie enthält alle als vermisst gemeldeten Personen, deren Zahl derzeit knapp unter 10.000 liegt. Durch die Eingabe aller fahndungsrelevanten Daten einer vermissten Person in INPOL werden sie quasi über Nacht auch automatisch in die Datei über Vermisste, unbekannte Tote und unbekannte hilflose Personen übernommen. Für den Fall, dass eine unbekannte Tote auftauchte, auf die Nadines Personenbeschreibung und ihre besonderen Merkmale passten, konnte somit eine rasche Identifizierung erfolgen.
Volljährige Vermisste wurden im Gegensatz zu Minderjährigen grundsätzlich nur zur Aufenthaltsermittlung ausgeschrieben. Anschließend wurden sie befragt, ob sie mit der Weitergabe ihres Aufenthaltsorts einverstanden waren. Damit war die Vermisstensache für die Polizei erledigt, und alle Fahndungsmaßnahmen wurden eingestellt. Minderjährige, die ihren Aufenthaltsort nicht selbst bestimmen konnten, wurden hingegen in Verwahrung genommen.
Nach der Ausschreibung in INPOL leitete Anja weitere Fahndungsmaßnahmen in die Wege. Dazu gehörte vor allem die Personen- und Funkfahndung. Sie verzichtete allerdings zunächst auf eine Öffentlichkeitsfahndung in den Medien und der lokalen Presse. Eine solche war ohnehin erst zulässig, wenn alle anderen Fahndungsmittel erfolglos geblieben waren. Da zudem Nadine Weinharts Auto nach Angaben der Mutter vor dem Haus stand, in dem sie wohnte, erübrigte sich eine Sachfahndung nach dem Fahrzeug. Diese hätte möglicherweise eher als eine Personenfahndung zum Erfolg geführt, denn ein Wagen konnte nicht so leicht verschwinden wie ein Mensch.
Als Nächstes initiierte Anja bei den zuständigen Kollegen eine Ortung von Nadines Handy. Die Mobilfunknummer entnahm sie der Vermisstenanzeige. Von nun an würde versucht werden, Nadines Mobiltelefon über Mobilfunkzellen, GPS oder mithilfe einer sogenannten »stillen SMS« zu orten. Allerdings musste das Gerät eingeschaltet sein und sich innerhalb des Funknetzes befinden, um eine Ortung zu ermöglichen.
Als Ermittlerin der Vermisstenstelle arbeitete Anja überwiegend vom Schreibtisch aus und telefonierte dabei viel. Doch gelegentlich war es auch notwendig, Personen persönlich zu befragen, Wohnungen zu durchsuchen und Identifizierungsmaterial zu beschaffen.
Deshalb rief Anja zunächst Nadines Mutter an, um ihren Besuch anzukündigen. Sie hatte ein paar ergänzende Fragen an die Frau und wollte sich einen persönlichen Eindruck von ihr verschaffen. Außerdem ging sie davon aus, dass die Frau einen Ersatzschlüssel für Nadines Wohnung besaß. So wäre sie nicht gezwungen, den Schlüsseldienst zu rufen, um in die Wohnung zu gelangen.
Mona Weinhart wohnte in einem Reihenhaus im Stadtteil Laim. Für Anja bedeutete das über die Zschokke- und die Gotthartstraße eine Fahrt von neun Minuten. Allerdings konnte die Frau, der man ihre Ängste deutlich ansah, denn sie war bleich und sah übernächtigt aus, Anja nicht viel Neues erzählen.
Die nächsten Angehörigen, die in den meisten Fällen die Vermisstenanzeigen aufgegeben hatten, gingen in der Regel sofort vom Schlimmsten aus. Sie vermuteten zumeist, die vermisste Person müsste einem Verbrechen oder einem Unfall zum Opfer gefallen oder sogar tot sein. Aber nur weil jemand eine Person vermisst, heißt das noch lange nicht, dass diese auch tatsächlich verschwunden ist.
Allein in München werden pro Jahr ungefähr 2.700 Menschen als vermisst gemeldet. Fast drei Viertel davon sind Kinder und Jugendliche, 20 Prozent wiederum demente und kranke Personen. Etwa 50 Prozent tauchen schon nach wenigen Stunden oder innerhalb einer Woche wieder auf. Nach einem Monat sind über 80 Prozent der Vermissten-Fälle erledigt. Der Anteil derjenigen, die länger als ein Jahr verschwunden sind, liegt hingegen lediglich bei drei Prozent.
Obwohl Anja ihr diese Zahlen nannte, ging Mona Weinhart weiterhin davon aus, dass ihrer Tochter etwas zugestoßen war. Wegen der Tumor-Diagnose unmittelbar vor Nadines Verschwinden war sie davon überzeugt, dass ihre Tochter vorhatte, ihrem Leben selbst ein Ende zu bereiten. Falls sie das nicht schon getan hatte.
Anja gab ihr insgeheim recht. Aber das sagte sie ihr natürlich nicht. Stattdessen versuchte sie, die Frau zu beruhigen, als diese plötzlich in Tränen ausbrach. Sie bemühte sich, ihre Ängste zu verringern, indem sie von ihren eigenen Erfahrungswerten erzählte. Außerdem nannte sie Fälle, die trotz aller vorherigen Unkenrufe positiv ausgegangen waren. Dabei bemühte sie sich, zuversichtlicher zu klingen, als sie es tatsächlich war.
Um die Frau auf andere Gedanken zu bringen, fragte sie nach Nadines Freunden und Arbeitskollegen. Die Kollegen im Klinikum Großhadern kannte Mona Weinhart nicht. Sie gab Anja jedoch den Namen, die Anschrift und die Telefonnummer von Nadines bester Freundin. Anne Schmelzer war vermutlich die letzte bekannte Person, mit der Nadine vor ihrem Verschwinden gesprochen hatte.
Anja notierte sich alles gewissenhaft in ihr Notizbuch. »Kennen Sie einen Ort, an dem Nadine in der Vergangenheit besonders glücklich war?«, fragte sie dann.
»Warum wollen Sie das wissen?«
Suizidgefährdete kehrten erfahrungsgemäß oft an Orte zurück, an denen sie sich in ihrem Leben wohlgefühlt hatten. Doch auch das sagte sie der Frau nicht. »Nadine ist wegen der Diagnose momentan vermutlich nicht besonders glücklich. Sie könnte daher gezielt einen Ort aufgesucht haben, an dem sie es in der Vergangenheit war«, erklärte sie stattdessen.
Aber Mona fiel kein solcher Ort ein. Nadine sei ihrer Meinung nach prinzipiell und überall ein glücklicher und fröhlicher Mensch gewesen.
Anja fiel auf, dass die Frau bereits in der Vergangenheit von ihrer Tochter sprach. Sie ging jedoch nicht darauf ein. »Können Sie mir ein aktuelles Foto ihrer Tochter geben?«
Mona hatte schon eine Aufnahme bereitgelegt. Sie hatte sie ursprünglich Polizeiobermeister Fischer bringen wollen.
Anja nahm das Foto entgegen und sah es sich an. Es handelte sich um ein Porträtfoto und zeigte Nadines Kopf und Oberkörper. Damit war es sowohl für die Fahndung als auch für eine eventuelle Identifizierung gut geeignet.
In jedem Vermisstenfall war Anja von Anfang an bestrebt, Material zu sammeln, das eine sichere Identifizierung ermöglichte. Das geschah für den Fall, dass die vermisste Person als unbekannte hilflose Person oder unbekannte Leiche wieder auftauchte. Dabei handelte es sich in erster Linie um Lichtbilder, eine detailgenaue Personenbeschreibung und eine Beschreibung der mitgeführten Gegenstände wie Schmuck oder Bekleidung. Außerdem wurde nach Möglichkeit der Zahnbefund, Fingerabdrücke und natürlich DNA-Vergleichsmaterial beschafft.
Sie steckte das Bild in ihr Notizbuch. »Haben Sie einen Schlüssel für Nadines Wohnung?«
Mona holte den Schlüssel. »Ich war gestern Vormittag selbst dort, um nach Nadine zu suchen. Ich … Ich habe befürchtet, Nadine könnte hilflos oder tot in der Wohnung liegen. Zum Glück hat sich das nicht bewahrheitet.«
»In welchem Zustand befand sich die Wohnung?«
»Sie war ordentlich und aufgeräumt.«
»Haben