So wie immer nimmt Schöning gute, schlechte oder unbestimmte Laune seines Königs mit unverändert ruhiger Würde hin. Die Wertschätzung von Seiten des Königs basiert vor allem darauf, dass ihm niemals weder eine Andeutung von Kritik, noch ein Zeichen von beifälliger Zustimmung anzumerken ist.
Die bis dato halbgeschlossenen Augen des Königs haben sich nach dem Genuss des dritten Tässchens Kaffee groß und weit geöffnet und nehmen sogar ein wenig von dem früheren Glanz an. Nun erst scheint ihm die sanfte Helligkeit des jungen Morgens bewusst zu werden: „Tiens! Werden später draußen sitzen können!"
Zunächst aber kommt wieder die Quälerei. Langsam lässt sich der König sein linkes Bein bis über die Knie in einen alten hohen Reiterstiefel hineinquälen, während das rechte Bein ausgestreckt auf einem Taburett liegenbleibt. Es ist dick mit Linnen umwickelt und scheint schon bei der leisesten Berührung zu schmerzen, wie jetzt, als ihm der alte Soldatenmantel darüber zurechtgerückt wird, damit von der weißen Umwickelung nichts mehr zu sehen ist. Das andere Bein im großen Reiterstiefel steht nun martialisch fest, fast drohend, auf dem Parkett - in seltsamem Missverhältnis zu der kleinen, im Lehnstuhl hockenden Gestalt. So aber ist der König bereit, sich fremden Augen zur Schau zu stellen. Die Augen seiner Kammerhusaren sind schon längst keine Fremden mehr. „Eh bien! Die Stilisten! Die Kujone!"
Schöning wundert sich längst nicht mehr über die kratzbürstige Bezeichnung des Königs für die Herren Kabinettssekretäre, diese bürgerlichen „Subjekte", die Regierungsanordnungen des Königs mündlich zu empfangen, schriftlich zu fixieren und nach erfolgter Namensunterschrift durch den König streng vertraulich an die entsprechenden Dienststellen weiterzuleiten haben. Er gibt den Befehl stumm, nur mit einem Blick, an den Kammerhusaren Neumann weiter, und von dem wird dieser Befehl dann nebst einer devoten Verbeugung ins Vorzimmer weitergereicht.
Alsbald erscheint ein Kabinettssekretär im Zimmer, einer von dem vieren, die seit einer halben Stunde im Vorzimmer warten. Schöning lässt den Sekretär bis auf drei Schritt an den Lehnstuhl des Königs herantreten und nimmt dann selber an Stelle des alten Neumann den Wachtposten an der Tür zum Vorzimmer ein. Die tägliche Zeremonie beginnt.
Oft genug haben die Kabinettssekretäre einer Musterung durch das königliche Auge standhalten müssen, kaum je so lange wie heute. Es kostet ihnen unsägliche Mühe, starr, ohne mit einer Wimper zu zucken, auszuharren. Gebe Gott, dass der König die Erlaubnis zu sprechen nur aus Altersschwäche und Vergesslichkeit hinauszögert! Endlich erfolgt - erlösend für den jeweiligen Vortragenden - die kleine Bewegung der königlichen Hand.
Nach Regel und Vorschrift muss nun vor aller eigentlichen Arbeit die Speisenfolge für die heutige königliche Mahlzeit verlesen werden. Der Leibkoch Noel hat sie aufgestellt. Die Aufmerksamkeit des Königs wird dabei sehr scharf, er gedenkt nicht, sich einen der letzten Genüsse, die er noch kennt, verkümmern zu lassen. Sehr reichlich, sehr absonderlich und vor allem sehr stark gewürzt soll jede Mahlzeit sein. Aber der Leibkoch ist ja vertraut mit dem Geschmack seines königlichen Herrn. Es kommt sehr selten vor, dass der König eine Änderung des Küchenzettels befiehlt. Nur fünf Gänge sind es, die dem König heute angeboten werden, aber leider bewältigt der königliche Magen in letzter Zeit schon diese fünf nur noch mit Mühe. Nachdem der König die Speisenfolge durch ein kleines Kopfnicken gebilligt hat, kann der Sekretär mit seinem geschäftlichen Bericht beginnen.
Immer wieder schlägt der König mit seiner gesunden rechten Hand wütend auf die Armlehne seines Sessels und unterbricht den Vortragenden. Nichts kann sich mit seinen Vorstellungen decken.
Als er Letzte der Kabinettssekretäre stumm verabschiedet worden ist, ergeht an Schöning die Weisung: „Schluss für heute! Die anderen morgen!" Inzwischen sind in Sans Souci die beiden Generaladjutanten und zwei Minister erschienen, wie sie der König vormittags - immer nur einen auf einmal, versteht sich - zu empfangen pflegt. Die Generaladjutanten wohnen in Potsdam, aber die Minister haben den weiten Weg von Berlin nach Sans Souci machen müssen, vergeblich: Seine Majestät verspürt keine Neigung mehr, irgendwen zu empfangen.
Nein, er wird draußen auf der Terrasse in der Sonne sitzen und sich mit sich selbst unterhalten. Freilich wäre es reizvoller, in einer auserwählten Tafelrunde witzige Gespräche zu führen, aber sein Befinden ist zurzeit nicht so, dass er während einer fünf- bis sechsstündigen Tafelei vor unangenehmen körperlichen Zwischenfällen sicher sein kann. Deshalb muss er seine umfängliche Hauptmahlzeit leider allein einnehmen. Allein? Natürlich nicht, immer in Gegenwart von zwei Kammerhusaren. Hilfe muss immer sofort zur Stelle sein, wenn es sich nötig macht, mit Widerlichem und Allzu-Menschlichem fertig zu werden. Aber Kammerhusaren sind ja nicht indiskrete Zuschauer und schadenfrohe Beobachter, sondern kritiklose Handlanger und Helfer. Sie haben gelernt, unangebrachte Gefühlsregungen sehr schnell bis zur Unspürbarkeit zu unterdrücken. Ach, Kammerhusaren sind überhaupt die besten Ärzte! Die erlauben sich nicht wie der Monsieur Doktor Selle, ihrem König alberne Vorschriften darüber zu machen, was er essen darf und was nicht. ,Ein süffisanter Wichtikus, dieser Doktor Selle! Hätte ihn schon längst wieder zum Teufel schicken sollen! Dreist und gottes-fürchtig ist der Bursche wie die meisten Meiner lieben Berliner. Eine mechante Mischung! Wirkt bei einem Leibmedicus widerwärtig, insolent...'
In Berlin gibt es keine Zweifel, dass Dr. Christian Gottlieb Selle, Arzt an der Charité, trotz seiner Jugend - achtunddreißig Jahre - ein so guter Arzt ist, wie man einen zweiten in Deutschland höchstens in dortigen Leibmedicus Dr. Zimmermann - finden könnte.
Deshalb betreut Dr. Selle ärztlich nicht nur den König - diesen freilich vergebens -, sondern mit gutem Erfolg, weil sie seine Vorschriften befolgen, fast sämtliche Mitglieder des Königshauses, auch den Thronfolger, den „Prinzen von Preußen", und den Prinzen Heinrich, den Bruder des Königs.
An diesem Vormittag fährt Dr. Selle in seiner bescheidenen Kalesche nach dem Schlösschen Niederschönhausen bei dem Dorf Pankow, wo die Gemahlin Friedrichs von Preußen seit sechsundvierzig Jahren, seit der Thronbesteigung des Königs, einsam ihre Tage zu verbringen hat.
Die königliche Gemahlin
Der König sieht es bereits als eine Vergünstigung an, dass sie zweimal im Jahre, zu bestimmten offiziellen Hoffestlichkeiten, in Berlin erscheinen darf, freilich dann auch muss. Im Übrigen ist es ihr nicht gestattet, Niederschönhausen zu verlassen, etwa um zu verreisen. Einmal, aber das liegt nun schon zweiundfünfzig Jahre zurück, hat sie ihre Heimat, ihr vertrautes, geliebtes Wolfenbüttel, wiedersehen dürfen - zum Besuch ihres schwererkrankten Vaters. Dann nie wieder. Ihr Hofstaat beschränkt sich auf wenige weibliche Personen. Die Apanage, die der König ihr ausgesetzt hat, ist aufs knappste berechnet, gerade so, dass Elisabeth Christine als Königin nicht unwürdig leben muss. Von allem, was sich in Berlin, was sich in Preußen, was sich in der europäischen Politik begibt, ist sie ausgeschlossen. Eingeengt und trist ist ihr Dasein. Sie lebt in der Verbannung. Was hat Elisabeth Christine verbrochen, dass Friedrich von Preußen glaubt, einen so harten Schicksalspruch über seine Gemahlin verhängen zu müssen?
Elisabeth Christines Schuld ist, dass sie den Kronprinzen Friedrich von Preußen geheiratet hat, oder vielmehr: dass sie sich gehorsam der Politik beugte, die diese Heirat beschloss. Und vielleicht noch mehr hat sie sich versündigt, weil sie - eine ahnungslose junge Prinzessin - der Verbindung mit dem preußischen Kronprinzen, von dessen glänzenden Geisteseigenschaften man sich in ganz Europa erzählte, voller Glück und Erwartung entgegengesehen hat.
Jetzt, als alte Frau, weiß sie, dass sie das nicht hätte tun sollen, dass sie damit dem Kronprinzen nur lästig fallen musste. Als junge Prinzessin hat sie es nicht gewusst. Damals, in ihren ersten Ehejahren auf Schloss Rheinsberg hat sie geglaubt, alles sei so zwischen ihr und ihrem Gemahl, wie es zwischen Eheleuten sein musste. Ach, was hatte man einer streng