„Cool. Und jetzt?“
Nikolaos nahm Mirabella an die Hand und ging, die andere Hand ausgestreckt nach vorne haltend aus dem Tempel heraus, Mirabella mit sich ziehend. Schließlich blieb er stehen. „Hier endet die Blase.“ Wenn die Schüler vom Olymp aus auf Reisen gingen, hatte meist der jeweilige Gott die Blase kreiert. Sie hatten gelernt, aus einer größeren eine eigene Blase zu erschaffen, jedoch immer nur unter Aufsicht.
„Sollen wir es zusammen versuchen?“
Mirabella nickte und sie konzentrierten sich auf ihre innere göttliche Energie, dehnten die äußere Hülle der Tempelblase mit ihren freien Händen, während sie über die verbundenen Hände die Energie des anderen spürten. Schließlich trauten sie sich in die kleine Ausbeulung zu steigen und eine kleine Blase spaltete sich von der großen ab.
Nikolaos setzte sich hin, den Rücken gegen die Blasenwand lehnend. Mirabella war zu aufgeregt, um sich zu setzen. „Fliegt die automatisch zum Olymp?“, fragte sie plötzlich.
„Glaub schon.“
„Und wenn man woanders hinfliegen möchte?“
„Dann muss man sie wohl lenken.“
„Ach, was. Meinst du geistig?“, fragte Mirabella gespielt beleidigt und setzte sich neben Nikolaos.
„Siehst du ein Lenkrad?“, antwortete ihr Bruder provozierend und grinste.
Mirabella boxte ihn liebevoll und musste auch grinsen. „Es ist alles noch so aufregend. In ein paar Monaten ist das wahrscheinlich voll die Routine für uns, aber im Moment finde ich es echt spannend.“
„Ist es ja auch“, gab ihr Bruder zu. „Offensichtlich können wir auch unsere Energie vereinigen. Meinst du, das geht auch bei der Telekinese?“
„Können wir ja ausprobieren, wäre cool.“
Sie planten eine Aikido Trainingsstunde mit telekinetischer Einlage und waren binnen Minuten wirklich im Olymp.
Die Blase dockte an und ging in die große, den gesamten Olymp umspannende Blase über, die hoch oben in der Erdatmosphäre über Griechenland schwebte. Sie standen in einem der vielen Säulengänge.
„Wie sollen wir hier Mars finden?“
Normalerweise waren sie in ihrem Klassenzimmer, natürlich auch eine Simulation, angekommen, aber nun standen sie in einem Gang, der in zwei Richtungen endlos zu führen schien. Plötzlich entdeckte Mirabella eine Tafel mit vielen Schriftzeichen an der Wand. „Oh, nein, das ist Griechisch. Nick…“
Ihr Bruder sah grinsend zur Tafel. „Da stehen die Namen der griechischen Götter. Also, wirklich, das Türschild hätten sie ja mal erneuern können, wenn sie sonst schon nichts mit den – ich zitiere – ‚griechischen Versagern‘ zu tun haben wollen.“
„Ich finde es gut, dass sie ihre früheren Identitäten nicht verleugnen. Auch wenn ich es leider nicht lesen kann…“
„Das Alphabeth ist nicht so schwierig. Ich kann dir helfen, es zu lernen.“
„Hm. Ist hier jetzt eine Klingel oder wie funktioniert das?“, fragte Mirabella ablenkend.
„Wir kommen, um dich zu fragen, Mars“, sprach Nikolaos laut, während er das Schild mit der Aufschrift ‚Ares‘ berührte. Die Jugendlichen warteten gespannt, als plötzlich eine Tür vor ihnen im Gang auftauchte. Nikolaos klopfte und öffnete dann die Tür.
„Kommt rein“, hörten sie eine bekannte und seitens Mirabella verhasste Stimme. „Was wollt ihr?“
Mars in seiner rauhen Schönheit in römischer Feldherrenbekleidung stand mit seinem Speer in der Hand in seinem Empfangszimmer. Mit Vulcanus hatten die Schüler den von ihm erbauten Olymp besichtigt. Jeder der Olympischen Götter besaß Räumlichkeiten hier, für den Besuch von Halbgöttern und Zwischenweltwesen gab es Empfangsräume, in denen die Götter Audienzen abhielten. Statuen, Rüstungen und Waffen schmückten das Vorzimmer von Mars, sein Helm mit roten Federn lag auf einem mittelalterlichen Stuhl, sein lockiges schwarzes Haar fiel wild in die Stirn, seine kalten grau-blauen Augen musterten die Jugendlichen interessiert.
Nikolaos räusperte sich. „Wir wollten fragen, ob wir heute eine Trainingseinheit durchführen können.“
„Ihr wisst, dass wir gerade Energie sparen müssen?“
„Jupiter sagte mir das, aber du solltest über die Simulation entscheiden.“ Nikolaos wirkte völlig ruhig, während Mirabella ihre Furcht vor Mars nicht ablegen konnte. Sie wippte nervös auf ihren Schuhsohlen.
Mars nickte gelangweilt. „Meinetwegen, eine einfache Simulation. Ohne Gegner.“
Nikolaos sah etwas enttäuscht aus.
„Ihr könntet natürlich in eine Zwischenwelt reisen und euch gegen echte Monster üben.“
Die Jugendlichen sahen sich an, Mirabella schüttelte schließlich den Kopf.
„Gut, wenn ihr Angst habt…“, sagte Mars verächtlich.
„Ich habe keine Angst“, schoss es wütend aus Mirabella heraus, „aber ich möchte nur üben und keine echten Monster bekämpfen, wenn es nicht sein muss.“
„Und du glaubst, diese Übungen bereiten dich genügend auf die echte Kampfsituation vor?“, fragte der Gott, ein spöttisches Lächeln umspielte seinen Mund. „Simulationen können einen nicht auf die Realität vorbereiten. Nichts kann das.“
„Mag sein, dass die reale Situation nicht vergleichbar ist, dennoch muss man die Technik üben“, gab Nikolaos angriffslustig, aber ruhig zurück.
„Natürlich“, erwiderte Mars. „Ich hätte nur mehr Mut von den Jupiterkindern erwartet...“
„Dann bring uns zu den Monstern!“, antwortete Nikolaos genervt.
„Jetzt lass dich nicht provozieren“, protestierte Mirabella. „Und wenn uns das Monster umbringt? Für nichts und wieder nichts? Ist doch bescheuert! Außerdem will ich keins töten.“
„Wir können es ja anders versuchen“, schlug Nikolaos vor.
Mirabella stutzte. Wollte er seine Suggestionsgabe üben? Mit echten Monstern würde man reden können, bei den Simulationen war dies nicht möglich. „Okay“, sagte sie schließlich in einem Ton, als würde sie dem Erdbeer- statt dem Vanilleeis zustimmen.
„Okay?“, fragte Mars verwundert. „Gut, ich werde ein Auge auf euch haben.“ Mit einer Handbewegung erschien ein Portal vor den beiden. Sie sahen sich ernst an und gingen dann gemeinsam durch das simulierte Tor.
Mirabella hatte auf ein Malleocornu gehofft, ein riesiges saurierartiges Tier mit einem hammerförmigen Horn, das in Flüssen lebte und eine sanfte Natur besaß. Vor ihnen stand jedoch ein anderes Wesen, das in das Verspeisen einer Kuh vertieft war. Sah man nur den Oberkörper, hätte man Gefallen an diesem menschlich wirkenden weiblichen Wesen mit den vollen Brüsten und den langen Rasta-Haaren finden können, leider wuchsen aus ihrem Unterleib mit vier behuften Beinen drei Köpfe von reißenden Bestien, die gierig an der Kuh nagten. In ihren Händen hielt es das noch schlagende Herz der Kuh und biss nun herzhaft mit ihrem menschlichen Mund hinein. Mirabella musste ihren Blick abwenden und sah zu Nikolaos, der ebenfalls angewidert Mirabellas Augen suchte. Sie sah sich nach dem Portal um, es war immer noch da.
Nikolaos folgte ihrem Blick und sah Mirabella fragend an. Sie zögerte, dann schüttelte sie den Kopf.
„Ist das eine Skylla?“, fragte sie flüsternd.
Nikolaos zuckte mit den Schultern. „Hatte die nicht sechs Köpfe?“
Als Mirabella wieder zum Ungeheuer sah, bemerkte sie, dass der Oberkörper