Politiker in den westlichen Erfolgs-Staaten sind nämlich (im Unterschied zu Journalisten und Linken) keine Demokratie-Idealisten; das ist unschwer daran zu erkennen, dass sie problemlos mit Autokraten und Diktatoren zusammenarbeiten und, solange diese Zusammenarbeit klappt, menschenrechtliche Verbesserungen und bürgerrechtliche Reformen kein Anliegen ihrer Außenpolitiker und Diplomaten darstellen.53 Diese Überlegung führt zur Rolle der Menschenrechtsdiplomatie im Verhältnis zu China. In diesem Fall hat man es mit einem Staatswesen zu tun, auf das die westliche Außenpolitik wenig Einfluss hat. China ist nicht eingeordnet in die westlichen Allianzen, steht westlichen Initiativen distanziert und frei kalkulierend gegenüber und verfolgt seine eigenen Anliegen „mit zunehmendem Selbstbewusstsein“, wie die hiesige Presse etwas verärgert feststellt. Anders formuliert: In diesem Land vermisst man die üblichen Einflussmöglichkeiten für westliche Interessen. NGOs54 werden inzwischen von den chinesischen Behörden registriert und in ihren Aktivitäten kontrolliert; es gibt keine oppositionellen Parteien oder Gruppierungen, die man fördern oder bestechen könnte, um den eigenen Interessen Einfluss zu verschaffen, kurz: es herrscht „Betonkommunismus“. Das zu durchbrechen und über Kanäle, wie sie in anderen Ländern üblich sind, den westlichen Berechnungen einen Weg in den politischen Betrieb der Volksrepublik zu bahnen – das ist der tiefer liegende Kern der westlichen Menschenrechts-Bemühungen.
Davon wollen Linke allerdings nichts wissen, wenn sie sich mit ihrer Regierung gegen den „gruseligen“ chinesischen Staat zusammenschließen. Sie werfen der Politik höchstens vor, dass sie sich in ihrem Kampf für Menschenrechte mal wieder durch miese ökonomische Berechnungen bremsen lässt. Und die ehemals friedensbewegten Grünen machen mit Menschenrechts-Vorwürfen zurzeit den ideologischen Vorreiter im neuen Kalten Krieg gegen die Volksrepublik. Da kommt für sie ganz ideal viel zusammen: Sie beweisen realpolitischen Durchsetzungswillen, und treten gleichzeitig im Namen höchster Werte an – gegen ein Land, das dem deutschen Ehrgeiz in Sachen Weltgeltung erheblich zu schaffen macht.
c) China als neo-koloniale oder neo-imperialistische Macht in Afrika
Gegen chinesische Aktivitäten in Afrika (oder anderen 3.-Welt-Ländern) wird mit viel Empörung festgehalten, dass Eisenbahnen, Kreditvergabe oder andere Bestandteile chinesischer Politik „nicht selbstlos“ seien, sondern eigenen, egoistischen Nutzenkalkulationen folgen. Natürlich ist das chinesische Agieren in Afrika nicht selbstlos – wieso sollte es das auch sein? Chinesische Politiker behaupten das übrigens auch gar nicht. Ihre Selbstdarstellung heißt: win – win, Geschäfte also, die für beide Seiten Gewinn bringen. Auch diese Darstellung entspricht nicht der Wahrheit über diesen Handel, die Ausgangslage der Beteiligten und die Verteilung des Nutzens. Aber der europäische Fingerzeig auf die „nicht selbstlosen Chinesen“ ist schon sehr verlogen.
Wie ist Afrika das geworden, was es heute ist: ein zerrütteter Kontinent? Europas Kolonialmächte haben Afrika unter sich aufgeteilt und ausgeplündert; nach dem 2. Weltkrieg haben die USA und Europa mit viel Gewalt für seine Ein- und Unterordnung unter den Weltmarkt gesorgt, dem die neu entstandenen unabhängigen Staaten nicht gewachsen waren und sind. Die westliche Kreditierung („Entwicklungshilfe“) hat dazu geführt, dass die afrikanischen Länder hoch verschuldet sind, der IWF (Internationaler Währungsfond) hat die Regierungen dann gezwungen, zwecks Schuldenbedienung ihre Völker noch mehr zu verarmen, Nahrungsmittelsubventionen zu streichen etc.
Resultat westlicher Politik in Afrika ist insofern: Keine Existenzmöglichkeiten für die Masse der Afrikaner (Flüchtlinge, die dann mit aller Gewalt von der „Festung Europa“ ferngehalten werden!), failed States, in denen sich um die wenigen verbliebenen Ressourcen geprügelt wird: Warlords, korrupte Regierungen, Bürgerkriege, in denen die Konflikte ethnisch oder religiös-fundamentalistisch ausgetragen werden.
Auf diese Lage traf das kapitalistisch gewendete China, das – ganz in der Logik dieses Systems – immer mehr Rohstoffe und Absatzmärkte braucht. Das organisieren die chinesischen Außenpolitiker mit den Aufbauleistungen, die dafür nötig sind: Bahntrassen, Häfen, Straßen. Für die Afrikaner ist das nach der desaströsen Behandlung durch die westlichen Staaten durchaus ein gewisses „win“.
Anders gesagt: Chinas Politik für seine kapitalistischen Außenwirtschaftsinteressen ist der „normale“ Imperialismus eines kapitalistischen Staats: Auch die Volksrepublik will sich nun die Welt für ihre Wachstumsinteressen zunutze machen – die Bedürfnisse der Leute spielen dabei nur eine Rolle, wenn sie als Mittel dafür taugen (Arbeitskräfte, Konsumenten). Als Neueinsteiger ins globale „game“ operiert China dabei mit einigen finanziellen und materiellen Angeboten an die Länder der 3. Welt, um die etablierten Geschäftsbeziehungen „auszustechen“, und ist dabei sehr erfolgreich.
Diese Analyse und Kritik des kapitalistischen Weltmarkts und seiner Konsequenzen ist allerdings in der deutschen Öffentlichkeit nicht sonderlich geschätzt; solange es sie organisiert gegeben hat, wurde sie praktisch bekämpft. Wenn heutzutage Staaten, die diese Weltordnung geschaffen haben und sie seit Jahrhunderten zu ihrem Nutzen ausbeuten, plötzlich Beschwerden über die „Benachteiligung der Afrikaner“ führen, weil andere als sie Geschäfte in Afrika machen und an Einfluss gewinnen – um was geht es da wohl?
d) Hongkong
Seit mehr als einem Jahr finden in Hongkong große Demonstrationen statt, die von der hiesigen Öffentlichkeit mit großer Sympathie beobachtet werden. Der Ausgangspunkt der jetzigen Proteste war ein neues Auslieferungsgesetz im Sommer 2019. „Mainland“-China machte das Recht auf Auslieferung strafrechtlich gesuchter Chinesen aus Hongkong geltend (politische Fälle waren im ersten Gesetzesvorschlag explizit ausgenommen, Hongkonger Richter sollten über das Auslieferungsgesuch entscheiden). Der Gesetzesvorschlag zielte vor allem auf Straftäter, die sich durch das Absetzen nach Hongkong der Strafverfolgung auf dem Festland entziehen wollten und sich dabei die Autonomie-Regelungen zunutze machten.55 Die Protestierenden in Hongkong haben die vorläufige Rücknahme des Gesetzes inzwischen mit einer Ausweitung ihrer Forderungen, bis hin zu der nach mehr Unabhängigkeit, beantwortet. Sie stellen damit Chinas Souveränität über Hongkong in Frage, werfen also eine essenzielle Gewaltfrage auf: Sie verlangen im Grunde die Separation ihrer Stadt aus dem chinesischen Staatsverband und machen das zum Programm diverser Oppositions-Parteien.
Darauf hat die Volksrepublik mit einer deutlichen Klarstellung reagiert: Sie wird ihre Souveränität über Hongkong keinesfalls aufgeben und ist bereit, diesen Anspruch mit aller dazu nötigen Gewalt durchzusetzen. Hongkong ist für sie seit jeher unbestreitbar Teil der chinesischen Nation, was Großbritannien bei der Rückgabe der Insel auch völkerrechtlich anerkannt hat („Ein Land, zwei Systeme“)
Dieser sehr prinzipiellen Begründung sind weitere nachgelagert: Hongkong ist mit seinen sieben Millionen Einwohnern ein Bestandteil des gesamt-chinesischen Wirtschaftsstandorts, dessen besondere Bedeutung für den Handel mit westlichen Ländern in den letzten Jahren zwar abgenommen hat, aber immer noch groß ist (viertgrößter Container-Umschlaghafen der Welt); zudem ist Hongkong einer der wichtigsten Finanzplätze in Asien, dessen Funktion (Zugang zum internationalen Finanzkapital) für chinesische Unternehmen zurzeit noch unverzichtbar ist. Geostrategisch wäre ein Ausscheren Hongkongs aus dem chinesischen Staat ein Desaster, liegt die Sonderverwaltungszone doch im Perlflussdelta und damit unmittelbar in der größten und profitabelsten Industriezone Chinas. Dass die Proteste in Hongkong von Beginn an massiv von außen, insbesondere von den USA, unterstützt wurden, hat die Haltung der chinesischen Regierung, sie als „staatsfeindlich“ einzustufen und strikt zu unterbinden, noch verstärkt.
Größere Autonomie-Wünsche oder gar Separatismus-Vorstellungen sind insofern vom Standpunkt der Regierung in Beijing aus völlig indiskutabel. Sie hat sich in einem „Sicherheitsgesetz“ alle rechtlichen Freiheiten gegen Demonstranten bzw. Oppositionsgruppen eingeräumt und inzwischen auch bereits begonnen, wichtige Repräsentanten einzuschüchtern.