a) China als besonders ausbeuterischer Kapitalismus
Natürlich werden in China Arbeiter_innen ausgebeutet – und zwar systematisch.
Die regierende KP hat schließlich ab 1978 kapitalistisches Wirtschaften durchgesetzt – kopiert hat sie dieses Prinzip übrigens vom Westen, der in diesem Fall kein geistiges Eigentum verletzt sah! China ist damit sehr spät in einen bereits fix und fertig organisierten Weltmarkt eingestiegen, den die erfolgreichen westlichen Staaten seit mehr als 150 Jahren durch die Ausbeutung ihrer Arbeiter_innen für das Wachstum ihrer Kapitale benutzt hatten (Ausplünderung der Kolonien inbegriffen!). Um westliches Kapital anzulocken, musste der asiatische Neueinsteiger vor allem zu Beginn (solange China selbst noch kein attraktiver Markt darstellte) besondere Angebote machen: Billigkeit seiner Arbeitskräfte, lange Arbeitszeiten, schlechte Arbeitsbedingungen.
Wer diese „Extra-Ausbeutung“ kritisieren will, hat insofern zwei Adressen: 1. den chinesischen Staat, der seine Leute als Sonderangebot für westliche Unternehmen herrichtet (siehe dazu Kapitel 2, 3, 4 und 5 in Teil 2 des Buchs) und 2. die hiesigen Kapitale und Staaten, die das mit Kusshand wahrgenommen haben.
Die letzteren haben sich dann übrigens mit Hinweis auf die von ihnen genutzten chinesischen Billiglöhne erpresserisch gegen das Lohnniveau und die sozialstaatlichen Standards in ihren westlichen Heimatländern gewandt und das Verhältnis von Lohn und Leistung in ihrem Sinne erfolgreich gesenkt. Und im Jahr 2008 haben sich vor allem US-amerikanische Firmen gegen ein chinesisches Arbeitsgesetz gestellt, das allgemeine Arbeitsverträge und Kündigungsschutz auch für die in Joint Ventures eingesetzten Wanderarbeiter vorsah.
An all dem wird vor allem eines klar: Die Vorstellung von „schlimmen“ und „weniger schlimmen“ kapitalistischen Unternehmen oder Staaten führt zu geistigen Irrwegen. Es ist vielmehr das eine und unteilbare Sachgesetz der kapitalistischen Konkurrenz, das bei den verschiedenen nationalen Standorten zu unterschiedlichen Konsequenzen führt. Im Falle Chinas (wie übrigens durchgängig in der sog. Dritten Welt, die darum konkurriert, Ziel westlicher Kapitalinvestitionen zu werden) sind Billigkeit und relative Rechtlosigkeit seiner Arbeiter entscheidende Pluspunkte für die Anlageentscheidungen westlicher Kapitale. Mit der bitteren Konsequenz, dass der weltweite Zugriff auf billige Arbeitskräfte die Lage der westlichen (Industrie-)Arbeiter massiv verschlechtert: Entweder verlieren sie ihre Arbeitsplätze oder sie müssen Lohneinbußen/schlechtere Arbeitsbedingungen und Sozialstandards hinnehmen – diese Auswirkungen der „Globalisierung“ genannten Expansion des Kapitals sind in den entsprechenden Sozialstatistiken gut abzulesen.
Die Kritik an China sollte also m.E. nicht lauten, dass es ökonomisch etwas anderes (oder besonders „Schlimmes“) macht, sondern dass es dasselbe System eingeführt hat wie das, das hier bei uns herrscht! Die Kritik zielt auf das System, nicht auf das besondere Land China.
Übrigens: Wenn sich in diesem Kontext Staaten, die von diesem System seit 150 Jahren erfolgreich leben, und ihre bezahlten Journalisten, die nichts für Veränderung übrig haben, geschweige denn für Revolutionen, als Hüter der Menschenrechte aufspielen und „brutale Ausbeutung“ in China anprangern, dann sollten einige Alarmknöpfe losgehen …
b) China als besonders repressiver Staat
Linke sind in vielen Dingen nicht einverstanden mit dem deutschen Staatswesen; den chinesischen Staat aber finden die allermeisten von ihnen schlicht indiskutabel und auf alle Fälle wesentlich „schlimmer“ als den hiesigen. Und natürlich: In einem Vergleich der politischen Systeme schneidet der chinesische Staat schlecht ab. Er lässt keine freie Presse zu und erkennt den Wunsch nach einer institutionalisierten Opposition neben der regierenden Einheitspartei nicht an; sein Herrschaftspersonal wird – zumindest oberhalb der kommunalen Ebene – nicht über eine öffentliche Wahl zwischen mehreren Kandidaten bestimmt; er zensiert seine Bürger und ihre sozialen Medien, er gängelt sie – inzwischen sogar mit einem ausgeklügelten „Sozialkreditsystem“ –, sich an Gesetze und Anstand zu halten.
Auffällig ist, dass Feststellungen dieser Art gar nicht den Auftakt zu Fragen bilden – etwa danach, wie das politische System in China aussieht (denn die Feststellung, was es alles nicht gibt, stellt ja keine Auskunft darüber dar, wie politische Entscheidungen in der VR zustande kommen), ob es von der westlichen Demokratie nichts wissen will, was seine Gründe dafür sind usw. usf. Umgekehrt könnte man auch fragen, was die große Masse der Bevölkerung in den westlichen Staaten eigentlich davon hat, dass es in ihren Ländern all das gibt … Für all diese Fragen gibt es bemerkenswert wenig Neugier. Es sieht so aus, als sei das Resultat des Vergleichs – China sieht schlecht aus – bereits alles, was man wissen wollte. Nehmen wir den Vergleich trotzdem einmal ernst.
Ein solcher Vergleich unterstellt eine qualitative Gemeinsamkeit; es ist nicht schlecht, diese festzuhalten, bevor man sich den Differenzen widmet. Dafür ist zunächst einmal – auf der abstraktesten Ebene – festzuhalten, dass es sich in beiden Fällen um staatliche Gewaltmonopolisten handelt, die ihren Bürgern die kapitalistische Konkurrenz um Eigentum als die Art und Weise vorschreiben, in der sie ihre (Lebens-)Interessen verfolgen dürfen.
Die dabei notwendig auftretenden antagonistischen Gegensätze verwalten dann ebenfalls beide mit dem Ziel, ein möglichst großes Wirtschaftswachstum und einen möglichst großen Zuwachs an staatlicher Macht und staatlichen Machtmitteln zu erzeugen.
Angesichts dieser essenziellen Gemeinsamkeiten ist es nicht verwunderlich, dass Bürger, die sich um den Erwerb ihrer privaten Einkommen kümmern (müssen) und die das mehr oder weniger mühsam erworbene Geld anschließend für ihren privaten Konsum ausgeben, keinen wesentlichen Unterschied zwischen den „inkompatiblen Systemen“ sehen. Die große Masse der gesetzestreuen Menschen, die sich „nicht groß um Politik kümmern“ (wie hier wie dort viele von sich selbst sagen), gerät im Normalfall außer bei Verkehrsdelikten weder in Deutschland noch in China mit der Staatsgewalt aneinander; deutsche Touristen sind übrigens immer wieder erstaunt, wie „normal“ doch alles in China aussieht (während sie auf Basis der heimischen Informationspolitik an jeder Ecke das Arsenal des Unterdrückungsstaats erwarten).
Anders sieht es bei der Organisation des politischen Systems aus. Hier sind in der Tat Unterschiede in der Art und Weise zu erkennen, wie die westlichen Demokratien Herrschaft regeln und wie China es macht.
In den westlichen Demokratien ist – wiederum abstrakt gefasst – die Besetzung der politischen Macht als Konkurrenz mehrerer Parteien organisiert. Dieses Verfahren sorgt dafür, dass sich die verschiedenen und entgegengesetzten gesellschaftlichen Interessen äußern können und gleichzeitig am „Machbaren“ der alternativlos feststehenden Staatsräson (Wirtschaftswachstum/Staatserfolg) relativieren. Die „geteilten Gewalten“ Legislative und Jurisdiktion kontrollieren sich und die staatlichen Exekutivorgane daraufhin, ob die ausgeübte Macht pur und effektiv diesem Zweck dient. Die Presse berichtet über gesellschaftliche Missstände und klagt wechselnd Bürger, Unternehmer und Politiker als Verursacher an. Ihre Hauptbotschaft lautet, dass alles, was zu Unzufriedenheit führt (Armut, Lebensmittelskandale, Krisen, Klimawandel), nicht sein müsste, wenn sich nur jeder an seinem Platz verantwortungsbewusst verhalten würde – und ist darin so notorisch kritisch wie ungemein affirmativ. In China liegt die politische Macht in den Händen der Kommunistischen Partei. Sie hat die Hoheit über die Frage, wer die wichtigen Entscheidungen im Land treffen darf und welche gesellschaftlichen Interessen für Wirtschaftswachstum und Staatserfolg berücksichtigt werden. Um diese Frage zu beantworten, organisiert sie einen Meinungsbildungsprozess innerhalb ihrer, den „Staat tragenden“ Partei, mit ihren 90 Millionen Mitgliedern und den dazu gehörenden gesellschaftlichen Verbänden bzw. Organisationen (Bauern, Gewerkschaften, Unternehmer, Frauen etc.).
Sind dann die Entscheidungen in den obersten Gremien gefallen, ergehen sie in Form zentralstaatlicher Direktiven; Provinzen und nachgelagerte Entscheider nutzen dabei