Die Zweite Welt. Andreas Egger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andreas Egger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754149966
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sie mal auf die eine, mal auf die andere Seite zu wehen. Die matte Nachmittagssonne gab nicht mehr viel Wärme ab. Holger Abendstern rückte den kostbaren Hermelinmantel sorgsam zurecht, und verschränkte danach seine kräftigen Finger, in sich verschlungen, hinter dem breiten Rücken. Sein einstmals starkes Gesicht blickte müde durch die Gassen, die sich von allen Seiten der Stadt zum Marktplatz hin ergossen. Nur wenige Händler boten ihre Waren feil. Die meisten davon waren Salzheimer, die Kleidung, Obst, Gemüse, Fleisch und andere Nahrungsmittel anpriesen.

       Die Zeiten waren schwierig und Besserung war nicht in Sicht. Holger wusste das, wusste es nur zu gut. Viele der reichen Familien waren weggezogen. Nach Süden, neuen, ertragreicheren Geschäften entgegen. Fast alle der ehemaligen Bediensteten verschwanden mit ihnen. Jene die blieben, hatten sich als Bauern oder Fischer sesshaft gemacht.

       Er selbst hatte mit seinem Vater, aber mehr noch mit seiner Frau zu kämpfen. Sie wollten weg. Wollten irgendwo hin, wo die Zukunft ersprießlichere Aussichten für sie bereithielt. Aber wie könnte er? Als gewählter Salzmeister? Die Menschen in Salzheim vertrauten ihm. Sie hatten ihn erkoren, zu dem Mann, der über ihre Geschäfte und ihr Zusammenleben wachen sollte. Er vertrat das Recht und den Stolz der einstmals reichen Stadt und führte den Vorsitz im Rat. Nein, die Bürde der Zeit mochte ihn brechen, aber beugen würde er sich nicht.

       Einer der Händler grüßte, als Holger an ihm vorüberschritt. Einige Worte wurden gewechselt, nichts Bedeutendes. Mutmaßungen über einen möglicherweise kalten Winter, eine halb ernst gemeinte, rhetorische Phrase über das kaum ausreichende Geschäftstreiben und einige weitere Fragen, die einfach nur gestellt wurden, um sie gestellt zu haben.

       Mit knappem Nicken verabschiedete sich Holger und spazierte weiter. Während er ging, inspizierte er noch einmal die Straßen vor und neben sich. Die breite südliche Marktstraße und die weit engere Handelsgasse, die sich nach Südosten erstreckte. Es tat sich nicht viel. Vom hektischen Treiben aus seiner Jugendzeit, war nichts geblieben. Kleinere Gruppen standen hier und da, einzelne Menschen gingen ihres Weges. Manche mit Waren beladen, andere nicht. Langsam näherte er sich dem Stadttor. Die wuchtigen Flügel strahlten bedingungslose Stärke aus. In wenigen Augenblicken war es durch schwere Ketten, welche ohne sichtbare Macht an einem kraftvollen Gewinde zerrten, verschließbar.

       Der Durchgang bot ausreichend Platz für zwei sich kreuzende Wagen und erstreckte sich gut zehn Schritt in der Breite, von Turmwehr zu Wachhaus. Die einstmals zahlreiche Stadtwache wurde darin untergebracht. Ein riesiges Gebäude. Die Zahl der Wachen war mittlerweile verschwindend gering. Nur noch ein Trakt des vielräumigen Hauses wurde genutzt.

       Die wuchtigen Mauern rund um die Stadt standen stumm und dunkel, verrichteten ihren Dienst und würden es in alle Ewigkeit tun. Aus massivem Granit gefertigt, fast zwanzig Schritt dick und ebenso hoch, trotzten sie der Zeit seit mehr als fünftausend Mondwechseln. Kaum Spuren des Verfalls waren zu erkennen. Anders sahen jedoch die Wohnhäuser rund um das Stadttor aus. Verzierungen und kunstvoll geschnitzte Holzrahmen säumten fast jedes Haus. Hier war zu erkennen, dass der frühere Reichtum schwand. Salzheim hatte anderes zu tun, als diese Überbleibsel besserer Tage zu pflegen und zu erhalten. So fehlte oder faulte hier und da ein Stück der Verzierungen, begünstigt durch die feuchte Meeresluft. Viele Dächer waren in schlechtem Zustand und so manche Wand oder Tür zeugte von der Armut.

       Holger Abendstern wärmte sich an den Sonnenstrahlen, von denen er wusste, dass sie bald nicht mehr wärmen würden. Tief atmete er ein. Brust und Bauch wölbten sich unter dem fein bestickten Leinenhemd. Sein Bauchansatz hatte sich in letzter Zeit stark vergrößert, aber das war nicht wichtig. In gesetztem Alter zeugte ein Bauch von Männlichkeit und Stärke. Davon abgesehen, liebte er das Gerstenbier, welches sein Schwager braute und ihm stets einige Fässer abgab. All seine Sorgen und Gedanken schienen im Rausch an Bedeutung zu verlieren und ließen ihn des Nachts schlafen. Zudem hörte er die Vorwürfe seiner ach so geliebten Frau kaum noch, was die Nachtruhe wiederum begünstigte.

       Das Tor war erreicht. „Hallo Leen“, grüßte Holger. „Egran“, fügte er mit freundlichem Nicken hinzu. Die beiden Wachen gaben den Gruß zurück, änderten jedoch wenig an ihrer lässigen Haltung. Gelangweilt stützten sie sich auf ihre langen Speere und warteten auf die Ablöse. Fast jeden Tag inspizierte Holger Abendstern die beiden Tore im Süden und Osten der Stadt, welche die gut vierundzwanzigtausend Einwohner Salzheims im Ernstfall schützen sollten. Immer war es dasselbe Bild. Gelangweilte Wachen, jeglicher Moral beraubt. Als würden sie nur noch auf den Tag warten, an dem er sie nicht mehr bezahlen konnte und sie weiterziehen würden.

       „Gibt es etwas zu vermelden?“, fragte er jenen, welcher Leen genannt wurde. Der schüttelte den Kopf. „Nichts, Salzmeister“, lautete die Antwort.

       Wie erwartet. Holger wollte sich schon gen Osten umdrehen, um das zweite Tor zu inspizieren, doch eine melancholische Anwandlung ließ ihn verweilen. Er hatte keine Lust mit jemanden zu reden, um noch mehr gebrochene Moral und unterdrückten Frust zu erfahren.

       Ein wenig Ruhe würde ihm guttun. So stieg er die Treppen hoch, welche gleich neben dem Wachhaus, nach links und rechts in flachem Lauf nach oben führten. Hinauf auf die breiten Mauern der Stadt, deren verlorenen Stolz und Reichtum sie immer noch repräsentieren und verteidigen wollten. Der feste leicht angewärmte Stein fühlte sich gut an. Beruhigend und friedlich. Die wulstigen, aber dennoch kräftigen Ellenbogen auf der massiven Brüstung aufgestützt, blickte der Salzmeister über das Land. Die weiten Ebenen südlich seiner geliebten Stadt taten sich vor ihm auf, und zeigten sich in ihrer vollen Pracht. Ein leicht oranger Schimmer lag über Wiesen, Hügeln, Feldern und Häusern. Die vereinzelten Bäume wiegten sich gemächlich, mit aller Ruhe des stillen Landes. Kleinere und größere Bauernhäuser lagen verstreut rings um die Stadt. Weite Flächen ertragreicher Felder lagen leer im lauen Wind. Die letzte Ernte des Sommers war eingebracht, und den Bauern stand eine ruhige Zeit bevor.

       Holger fühlte sich schon viel besser. Auf seinem Gesicht fand sich ein leichtes Lächeln. Jedoch zeigte all die Idylle dennoch eine breite, unbefahrene Straße, die in gerader Linie nach Süden führte. Wie so oft.

       Eben jene Straße ließ ihn nun aufmerken. Da war etwas. Holger kniff die Augen zusammen und stierte nach Süden. Ein Schatten womöglich nur, oder Reisende. „Hmm ...“, brummte er und beobachtete weiter. Langsam erkannte er, was sich da näherte. Ein Fuhrkarren war es und mit ihm zwanzig bis dreißig Mann, welche langsam, aber stetig den breiten Weg beschritten. Der Salzmeister freute sich in diesen Tagen über jeden Handelswagen. Er stieg die Stufen, die er vorher erklommen hatte, schnell wieder hinunter und begab sich zu den beiden Wachen am Tor.

       „Haltung Männer“, sagte er in befehlendem Ton. „Ein Händler nähert sich. Also bemüht euch gefälligst um ein ordentliches Bild!“

       Langsam verstrich die Zeit. Holger wartete ungerührt. In letzter Zeit begrüßte er die meisten ankommenden Handelsreisenden selbst. Der persönliche Kontakt tat ihm gut, und zeigte, dass der Handel in und um Salzheim immer noch vorhanden war. Lediglich Frequenz und Konstanz dieser Besuche hatten nachgelassen.

       Allmählich konnte man die Karawane besser erkennen. Sie wurde angeführt von einem Zwerg, einem Minotaur und einem jungen Mann, den Holger schon aus dieser Entfernung zu kennen glaubte. Leen, der zur Linken des Salzmeisters stand, sagte leise: „Bei Naar, was für ein dreckiger Haufen.“

       Holger herrschte ihn streng an: „Ruhe! Siehst du besser aus, wenn du durch die Sümpfe stolperst?!“

       Die Stadtwache reagierte betroffen, entschuldigte sich und verblieb stumm. Wieder blickte Holger auf die Truppe vor ihm, die nun schon deutlich näher war. Bei näherer Betrachtung des gebotenen Bildes, schollt sich Holger selbst für seine raue Stimme. Es war wirklich ein schmutziger Haufen. Vor allem der Zwerg war von oben bis unten in verkrusteten Matsch gehüllt. Nur sein Gesicht war einigermaßen sauber. Der lange Bart, zu zwei Zöpfen geflochten, mochte wohl einmal braun gewesen sein. Dessen war sich Holger aber nicht sicher, so steif und schmutzig war er.

       Nun war auch der Händlerwagen mit seinem Lenker gut zu erkennen. „Meisterlich!“, bemerkte Holger Abendstern. „Es ist Markre Meisterlich!“ Ein breites Lächeln zeigte sich im Gesicht des Salzmeisters, wobei seine Wangen wie zwei rote Kugeln hervortraten.

       Die beiden kannten sich seit vielen Jahren