Am hinteren Ende des Zugs führte man Gespräche anderer Natur, über Liebesabenteuer und ausschweifende Trinkgelage. Die verschiedenen Erlebnisse in Salzheim wurden laut und übertrieben erzählt. Auch Brand beteiligte sich an der einen oder anderen Unterhaltung. Noch gestern hatte er sich sehr zurückgezogen verhalten, hatte gegrübelt und war meist alleine. Es war verwunderlich, dass gerade ihm der Tod Klais so viel bedeutete. In Menschenjahren war Brand der älteste der Söldner. Er hatte unzählige Tote und viele Verluste ertragen müssen. Er hätte eigentlich nicht so sehr betroffen sein dürfen. Nicht durch den Tod eines Mannes, den er erst seit Kurzem kannte. Was wirklich dahinter steckte, konnte man nicht ergründen. Mauran hatte ihn darauf angesprochen. Erfolglos.
Gegen Abend lichteten sich die Nebel. Eine flache Talsenke bot einen geeigneten Platz für das Nachtlager. Garantor war gerade dabei, ein kleines Feuer zu schüren, als er plötzlich aufsprang und sich umsah. Es wurde schnell ruhig um ihn. Brube war der erste, der verwundert nachfragte. „Was ist los Garantor?“
Der Zwerg hob die Hände, die Handfläche offen vor sich, mahnte mit dieser Geste zur Stille und verharrte mit angespanntem Gesichtsausdruck. Kein Laut war zu hören. Mehrere standen auf, und griffen nach ihren Waffen, einige blieben einfach sitzen versuchten zu vernehmen, was Garantor wohl hören mochte. Der Händler Almud wurde unruhig. Er malte sich alle möglichen Gefahren aus und schmiegte sich eng an einen seiner beiden Maulesel. Es dauerte viel zu lange, bis sich etwas tat. Dann endlich sprach der Zwerg. „Donner. Entfernter Donner. Nein, es klingt ähnlich, zu konstant ... die Erde ... ich verstehe es nicht.“
Die Männer und vor allem der Händler entspannten sich. Weit entfernter Donner war nichts, was irgendjemanden wirklich interessieren musste.
So stand der Zwerg mit seinem undurchsichtigen Gedankengang alleine. Einen weiteren Augenblick später fügte er hinzu: „Osten, aus dem Osten kommt es!“
Brube setzte sich wieder hin. „Was soll schon sein?“, sagte er, legte seine Hellebarde neben sich auf die Erde und wärmte seine Hände am Feuer. Seinem Beispiel folgten einige, aber nicht alle. „Salzheim“, sagte Mauran Falkenflug. Seine Sinne reichten nicht an die des Zwergs heran, waren für einen Menschen jedoch sehr gut ausgebildet. Sein Gesicht wurde weiß. Auch er hörte nun den Donner. Oder bildete es sich nur ein? Es war egal.
Garantor nickte langsam.
Mauran Falkenflug sagte nichts. Ohne ersichtlichen Grund lief er los in Richtung Osten. Garantor erteilte hastig einen Befehl: „Thef und Dimite, Zrak, Kalad und die Bogenschützen; ihr folgt mit dem Wagen, der Rest mir nach, wir müssen Mauran folgen.“ Dann rannte auch er los, ohne sich umzusehen.
„Ja spinnt ihr oder was soll der Mist?“, brüllte Brube, bevor er sich in Bewegung setzte. Für derlei Abendsport hatte er nichts übrig. So mancher teilte diese Ansicht, aber was half es? Keiner missachtete den Befehl.
Es dauerte nicht lange, bis sich die Gruppe in monotonem Dauerlauf gefunden hatte. Garantor schnaufte schwer. Die kurzen Beine und sein hohes Körpergewicht waren auch hier wieder von Nachteil. Normalerweise wäre er nicht gerannt, hätte Cebrid und Mauran die Verantwortung übertragen. Jedoch nicht in diesem Fall. Keine Sekunde hatte er daran gedacht, beim Wagen zu bleiben und gemächlich zu folgen. Die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit mahnten als Vorboten des Unheils. Offensichtlich hatte Mauran die Zeichen als erster gedeutet und Garantor würde dabei sein, bei allem was sich zutragen mochte. Seine Entscheidungsgewalt und Autorität könnte sich als ausschlaggebend erweisen.
Es wurde nicht gerastet. Die Nacht wurde erst dunkler, dann wieder heller und als der erste Sonnenstrahl die Hügel überwand, wurde das Elend mit voller Gewalt ersichtlich. Der Horizont war rußgeschwärzt. Bis hinauf zur Sonne hatte sich die Welt in das Gewand des Todes gekleidet. Je näher sie kamen, desto deutlicher waren Schreie zu vernehmen. Schreie des Schmerzes und der Qual, des Verlusts und des Leids.
Doch noch lauter hallten das Grölen und die Wutschreie des Volkes zu ihnen, welches all dies Leid verursacht hatte. Oger. Mit beängstigender Konstanz drang das Entsetzen durch Luft und Erde. Vibrationen, hervorgerufen durch unzählige Stiefel und Kehlen, waren deutlich zu spüren.
Nur noch ein Hügel trennte Mauran von der freien Sicht auf Salzheim. Als der überwunden war, fiel er auf die Knie. Tränen rannen ihm über die Wangen und seine Hände gruben sich in die Erde, überwältigt vom Unfassbaren, das er sah. Nur ein kurzer Marsch trennte die Gefährten vom entsetzlichen Gemetzel.
Eine unglaubliche Anzahl an Ogern drang durch die geborstenen Mauern Salzheims. Tausende hatten sie schon überwunden. Die Zahl der Angreifer war unvorstellbar groß. Die Stadt seiner Kindheit, seiner Familie, so klein und schutzlos. Ein Streifen der westlichen Mauer, mindestens tausend Schritt breit, war zusammengebrochen. Mauran weinte und schluchzte, konnte und wollte die Tränen nicht stoppen. Feuer, überall Feuer. Das ganze westliche Viertel bis hin zum Marktplatz war verkohlt oder niedergerissen. Nichts konnte die Grausamkeit stoppen. Enorm wuchtige Rammböcke lagen da, wo die Schutzwälle geborsten waren. Niedergerissen durch die Wucht von wenigen Rammstößen. Hundert Oger oder mehr mussten jeden einzelnen davon geführt haben.
„Bei Rekar ...“ Mehr brachte Garantor im Moment nicht hervor. Was könnte er sonst sagen? Noch nie hatte er eine Armee erblickt, die an Kampfstärke, ja noch nicht einmal an Zahl mit dieser hier vergleichbar war. „Das gibt es nicht ... so viele ...“, stammelte er.
Auch die restlichen Mannen standen nun stumm auf dem Hügel. Keiner von ihnen sprach. Schwerer Atem, verzweifelte Gesichter; keiner brachte mehr hervor, als das bloße Entsetzen in aufgerissenen Mündern.
Die beiden Brüder standen nebeneinander. Brube sah Cebrid an. Der reagierte nicht. Mit bleichem Gesicht stand er da. Er hatte noch nicht einmal die Kraft, seinen Zweihänder zu ziehen. Brube hatte es geschafft, aber was sollte weiter geschehen? Entgeistert blickte er umher, die schwere Hellebarde in beiden Händen. Die Knochen seiner mächtigen Fäuste standen bleich hervor, vom Druck, den er auf den Griff seiner Waffe ausübte.
Der Walnussbaum in der Mitte des Marktplatzes brannte lichterloh. Die Feuersäule des Baums unterschied sich vom Rest des Brandes und war deutlich zu erkennen. Die Feuerwalze, genährt vom dürren Holz des alten Baumes, zielte senkrecht in den Himmel.
Das Lied des Leids wollte nicht verklingen, die Schreie nicht verhallen, das Waffengeklirre nicht verebben. Überall waren Oger. Sie stürmten gerade in die Stadt oder waren als Schemen irgendwo und überall darin zu erkennen. Brube stand noch immer regungslos da, so wie Garantor und alle anderen. Mechanisch erhob sich Mauran Falkenflug. Den Blick starr auf das Unheil gerichtet, die Hand des Wahnsinns auf seiner Schulter und eben jenen Blick in den Augen. „Mauran!“, rief Garantor. Keine Antwort. Noch einmal rief er den Namen seines Freundes, jedoch ergebnislos. Mauran wollte sich in Bewegung setzen, doch Garantor hatte ihn bereits am Arm gepackt, mit einer Kraft, die der des drahtigen Menschen weit überlegen war. Blitzschnell fuhr die Hand Falkenflugs an seinen Ledergürtel und zog den kostbaren Zwergendolch mit der Klinge aus feinstem Diamant. Garantor reagierte noch schneller. Ehe der Mensch zustechen und sich somit befreien konnte, grub sich die geballte Faust des Zwergs schwer in die Magengrube Mauran Falkenflugs. Der sackte zwar zusammen, kam aber nicht zur Ruhe und wollte sich hochrappeln. Garantor versetzte dem ungeschützten Kopf seines Freundes einen Schlag mit seiner bewehrten Stirn. Ein leises Stöhnen war alles, was Mauran von sich gab. Dann sank er vornüber und blieb regungslos liegen.
Der Blick des Zwergs lag mitfühlend auf ihm. „Dein Tod würde nichts bewirken, mein Freund. Damit hilfst du niemandem ...“ Garantor sprach diese Worte und verblieb dann stumm.
Es gab weder etwas zu sagen, noch zu unternehmen und jeder wusste das.
Die schwachen Sinne der Oger machten es unwahrscheinlich, entdeckt zu werden. So verweilten sie lautlos, blickten auf Salzheim und grämten sich vor Trauer über den unaufhaltsamen Untergang der einstmals glänzenden Stadt. Und immer noch