Alsuna Jasmin - Sonnenblume. Bridget Sabeth. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bridget Sabeth
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753194325
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nach dem Schmerzmittel. Nein, solange lag die letzte Einnahme nicht zurück, da wollte sie kein Risiko für das Ungeborene in ihrem Bauch eingehen. Sie beließ die Packung in ihrer Tasche.

      Dafür wirkte der Wunsch, sich ins Bett zu legen und lange Zeit nicht mehr aufzustehen, irrsinnig verlockend. Zuvor musste sie jedoch dem verdächtigen Drang in ihrem Unterleib nachgeben. Sollte sie etwa einen Harnwegsinfekt ausbrüten? Konnte das gefährlich für eine Schwangerschaft sein? So genau wusste Natascha das nicht.

      Kaum hatte sie ihr Höschen hinuntergezogen, blickte sie erstarrt auf einen frischen Blutfleck. »Aber … das Kind! Unser Kind! Das kann kein Harnwegsinfekt sein!«

      Verzweifelt knüllte sie reichlich Klopapier zwischen Slip und Hose. Sie musste dringend zum Arzt, nein, am besten direkt ins Krankenhaus!

      Entschlossen stapfte sie los, lief bei dem Hinterausgang des Hotels hinaus! Im Normalfall benötigte sie kaum eine Viertelstunde bis zur Klinik. Sie trat zur Bushaltestelle, schaute am zugehörigen Schild auf die Abfahrtszeiten. Der nächste Bus fuhr erst in dreißig Minuten! Da war sie zu Fuß schneller! Die Angst, um ihr Ungeborenes pumpte heißes Adrenalin durch ihre Adern, weckte ungeahnte Kräfte in ihr.

      Sie querte die Straßenseite, kam an einer Hecke vorbei, als ein Stich im Unterleib sie zusammenkrümmen ließ. Natascha atmete zischend durch. Das fühlte sich alles andere als in Ordnung an! Was hatte das zu bedeuten? Hoffentlich ging es dem Baby gut! Dem kleinen Wesen, das sie schon jetzt über alles liebte! Auf das sie alle Zukunftshoffnungen setzte!

      Der Herbstwind trug ihr ein männliches vertrautes Lachen zu. Janusz! Sie reckte den Kopf, um ihn zu suchen. Wenn er in der Nähe war … könnte er ihr helfen!

      Da entdeckte sie ihn, auf der gegenüberliegenden Straßenseite sitzend vor einem Café. Er hielt ein anderes Mädchen im Arm! Mit blondem Haar!

      Als er sich nach einem Kuss etwas zurückneigte, erkannte Natascha die Frau. Petra … ihre Zimmerkollegin.

      Natascha würgte. Sie wich zurück in den schützenden Schatten, wollte nichts mehr sehen, kämpfte mit dem Begreifen! Janusz und Joschi waren dieselbe Person! Wie konnte das sein? Hatte er all die Monate ein doppeltes Spiel getrieben?

      Mit verschwommenem Blick eilte sie weiter. Ja – so musste es sein! So viel hatte Natascha mitbekommen, dass Petra und ihr Joschi über Jahre miteinander verbunden waren. Sie kannten sich seit ihrer Kindheit, wuchsen im selben Ort auf, hatten sich quasi als Kinder einander versprochen. Waren somit seine Liebe und die Versprechungen bloß hohle Phrasen gewesen, Natascha für ihn ein Abenteuer?

      Ein Schluchzen trieb aus ihrer Kehle. Sie stützte sich an der Mauer eines Hauses ab, tastete sich daran weiter entlang. Wollte sie überhaupt das Kind eines Hallodris? Sie horchte in sich hinein. Ja, sie empfand bereits jetzt eine bedingungslose Liebe für das Baby in ihrem Bauch. Unschuldig und rein! Natascha wollte geliebt werden, und endlich Liebe weitergeben! So viel davon trug sie in ihrem Herzen. Notfalls, auch ohne einen Kerl an ihrer Seite zu haben! Egal, wie aufgebracht die Eltern wären!

      Sie blinzelte zum Krankenhaus, das sich als riesiger Komplex vor ihr erhob. Bald würde sie beim Eingang sein, in ärztlicher Obhut! Ein neuer krampfartiger Schmerz breitete sich tobend in ihr aus. Sie keuchte auf. »Bitte … bitte … bleib da, verlass mich nicht – nicht du auch noch!«

      Nächtlicher Anruf – Ende Juni 2019

      Es erklang das vertraute gurgelnde Geräusch, als ich auf den Knopf des silbernen Kaffeevollautomaten drückte. Sogleich lief die dunkle heiß dampfende Flüssigkeit in den vorbereiteten Becher. Ein herbes vollmundiges Aroma zog in meine Nase.

      »Bitte, Jasmin, mach mir auch gleich einen«, rief mir meine Kollegin Bernadette zu, die emsig auf die Tasten des Laptops drückte, um die aktuellen Ereignisse der ersten Nachtrunde einzutragen und abzuhaken. Wir hofften beide darauf, dass die Bewohner im Seniorenheim gut schliefen, denn das bedeutete für uns einen ruhigen Dienst.

      »Mach ich.« Ich tauschte den Becher. Während der nächste Kaffee heraussickerte, nippte ich vorsichtig am heißen Getränk. »Herrlich. Perfekt, um wach zu bleiben.« Ich griff nach der Kaffeetasse für Bernadette und stellte diese an ihrer Seite ab.

      »Bin ja neugierig, ob Frau Huber heute wieder im Zwanzig-Minuten-Takt läutet.« Bernadette seufzte und unterließ die Eintragungen. »Gestern war sie bis zwei Uhr im Schlummerland, ehe sie ständig zur Glocke gelangt hat. Und sobald man drinnen ist, braucht sie nichts und schaut dich mit großen verständnislosen Eulenaugen an. Dafür verschläft sie dann meist den gesamten Vormittag. So geht das nicht weiter.«

      Ich ließ mich auf dem Stuhl vor dem Computer nieder, um ebenso mit der Dokumentation zu beginnen. »Ich denke, wir sollten etwas Geduld haben, sie ist ja erst seit zwei Wochen bei uns, da muss sie sich eingewöhnen. Vielleicht sollten wir ausprobieren, dass Frau Huber am Abend später mit der zweiten Partie niedergelegt wird. Dennoch werde ich bei der nächsten Visite mit dem Arzt die bestehende Medikamentenliste durchsehen, vielleicht können wir da etwas anpassen.«

      »Das ist eine gute Idee. Schlimm, wenn Menschen in ihrer Demenz so verloren sind, nicht mehr realisieren, wo sie sich befinden und was überhaupt los ist.«

      Ich nickte. Manchmal spürte man die Ängste der Bewohner bis direkt ins eigene Herz hinein. Sie waren gefangen in ihrer Welt. Da halfen keine Erklärungen, die ohnehin nicht zu ihnen vordrangen. Oft fragte ich mich, was für ein Entsetzen sie in ihrem Kopf wieder und wieder durchmachen mussten. War es das Detonieren von Bomben im Krieg? Oder weil sie an Lederriemen versuchten, ihren Hunger zu stillen, wenn es nichts zu essen gab? Die sterbende Mutter? Oder das Lieblingstier, das geschlachtet wurde? …

      Meine Fragen blieben unbeantwortet. Aber allein aus den gesammelten Daten in den Biografien wusste ich, dass die Mehrheit der Menschen in unserem Heim ein karges Leben geführt hatten. Geprägt vom Krieg und der Nachkriegszeit, Altlasten, die sie jetzt, am Lebensende mitunter verfolgten. Das einzige Mittel, das letztlich half, war Nähe: eine Umarmung, ein summendes Lied, Zeit – die meist zu kurz kam und in all unseren Dokumentationen nicht eingeplant wurde.

      So eine Zeile mit dem Text: Heute eine halbe Stunde Nähe geschenkt, das müsste für mich bindend hinein und in der Pflegestufe miteingerechnet werden. Aber nein, der Alltag sah ganz anders aus und war gefüllt mit lauter Verpflichtungen, die es abzuhaken und zu dokumentieren gab: Betten machen, passende Kleidung bereitlegen, Dinge wegräumen, beim Essen helfen, in der Körperpflege unterstützen, Telefonanrufe entgegennehmen, Medikamente vorbereiten, Verbände wechseln, auf das WC setzen, mit Angehörigen sprechen, Bedarfsmittel auffüllen … und gefühlte tausend andere Dinge. Wobei sich diese Tätigkeiten pro Bewohner multiplizierten. Dennoch liebte ich den Job und die alten Menschen, die für mich über die Jahre ein Stück Familie waren.

      Dumpf erklang ein Klingelton, der mich aufhorchen ließ. »Wer möchte um diese Zeit etwas von mir?« Ich eilte zu meiner Handtasche, die ich in einem Schrank verstaut hatte und zog das Handy hervor. Am Display stand Mama. Seltsam, normalerweise vergisst sie meine Dienste nie! »Hey, was gibt’s? Du, ich habe Nachtd…«

      »Komm, komm bitte schnell!«, ertönte es atemlos.

      »Mama, was ist los? Ich kann nicht … und ich verstehe dich schlecht.«

      »Er ist wieder da!«

      Ich hörte etwas zerschmettern. Die Tür, ein Fenster, oder war sie hingefallen? So genau konnte ich das nicht sagen. Innerhalb einer Sekunde griff die Panik meiner Mutter auf mich über. Mama war weder überängstlich, noch machte sie irgendwelche derben Scherze.

      »Hilfe! Will … will mich umbringen! – Huch!«, stieß sie geschockt aus.

      »Hast du die Polizei gerufen?!«

      Statt der erhofften Antwort brach das Gespräch ab. Hektisch drückte ich auf die noch aufscheinende Telefonnummer meiner Mutter, um zurückzurufen.

      »Was ist los? Du bist so bleich!« Bernadette suchte irritiert meinen Blick.

      Unruhig wanderte ich im Dienstzimmer hin und her.