»Ja ... Ich habe wirklich geglaubt, ich wäre im falschen Film ...«
»Tja, willkommen in Eschberg, es kann nur aufwärtsgehen ...«
»Auch wieder wahr.«
Für einen Moment war es ruhig im Raum. Die beiden Männer beäugten sich kurz und fingen im gleichen Augenblick an zu grinsen.
»Okay, ich habe eigentlich mit einem älteren Herrn gerechnet, Spätfünfziger vielleicht und irgendwie ... Anders!?«
»Ich auch. Ich gestehe, ich war die letzten drei Wochen im Urlaub und habe mich nicht wirklich über Sie informiert, Herr Dr. Brandt ...«
»Oh, bitte. Lassen wir das. Ich habe gestern gelernt, auf unnötige Höflichkeitsfloskeln unter Gleichaltrigen zu verzichten ... Also, ich bin Magnus.« Er reichte ihm die Hand. Thomas Bachmann schlug ein.
»Und ich bin Thomas ... Und verwirrt.«
»Wieso?«
»Meine Freundin Victoria benutzt genau diese Redewendung, wenn sie sich vorstellt.«
»Ähm. Ja. Wenn wir von Victoria Berg sprechen, dann habe ich das von deiner Freundin.« Magnus betonte das Wort Freundin absichtlich etwas mehr.
»Also, sie ist eine Freundin, nicht direkt meine Freundin. Ich bin ledig. Und seit genau vier Wochen offiziell geoutet. Wenn ich das so frei ansprechen darf?«
»Um Himmels willen, sicher. Ich bin aus Berlin ja quasi ›daran gewöhnt‹, was ich jetzt absolut nicht despektierlich meine.«
»Schon gut.« Thomas lachte. Und es klang ehrlich. »Wo hast du sie kennengelernt?«
Magnus erzählte ihm kurz, wie er und Victoria sich begegnet waren und gestand ihm auch vorsichtig, dass er sie mochte. Als Frau Scharnweber die beiden Männer mahnte, dass es höchste Zeit für die morgendliche Besprechung mit Magnus würde, verabschiedeten sie sich, tauschten noch schnell ihre Handynummern aus und verabredeten sich für die kommende Woche auf einen Sundowner im Daily.
Der restliche Tag zog sich für Magnus wie Kaugummi. Vier gähnend langweilige Verhandlungen, bei denen er regelmäßig den Faden verlor, unzählige Stellungnahmen und Berichte zu Gesetzesvorhaben, noch mehr offene Fälle, die beschlossen werden mussten und zu guter Letzt zwei Personalangelegenheiten, die keinen Aufschub duldeten.
Um halb sechs hatte er, außer dem Nutella-Toast zum Frühstück, nichts gegessen, zwei Liter Dr. Pepper getrunken und eine Aspirin eingeworfen. Frau Scharnweber war bereits vor einer Stunde gegangen. Er hatte bisher kaum Zeit gehabt, sie kennenzulernen. Magnus schätzte sie auf Ende fünfzig, ihre bisherige Attitüde war eher mütterlicher Natur. Er würde schon noch mehr über sie herausfinden. An einem anderen Tag.
Jetzt galt sein Interesse einer ganz anderen Frau, viel aufregender, attraktiver, netter und anziehender. Im Gehen löste er seine Krawatte, schmiss sie auf den Beifahrersitz, drehte das Radio auf und wippte mit dem Kopf zum Takt der Musik. Irgendein Chart-Song. Egal. Klang nach guter Laune. Ruckartig hielt er vor dem Blumenladen, stieg aus und verharrte. Grübelte.
Rote Rose? Zu aufdringlich.
Lilie? Erinnerte ihn an seine Oma.
Gerbera? Auch nicht das Wahre.
Pinke Rose? Erst recht nicht. Pink passte nicht zu Victoria.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte die Floristin.
»Hmmm.« Magnus überlegte.
Und entschied sich dann doch für den Klassiker. »Eine Baccara, bitte.«
Im Hinausgehen roch er daran und sog den Duft der tiefroten Rose ein. Er hatte gestern nur kurz die Gelegenheit gehabt, so nah an Victoria heranzukommen, dass er nur noch wusste, wie gut sie roch, aber nicht mehr genau sagen konnte, wonach. Vanille, Ingwer, Süßholz?
Victoria blickte auf das Display im Armaturenbrett. Ein bisschen auf das Gaspedal gedrückt und sie würde es pünktlich schaffen. In der Firma gab es intern eigentlich kein Zuspätkommen. Sofern die Arbeit erledigt wurde und die entsprechenden Abteilungsleiter zumindest regelmäßig an den Meetings teilnahmen, konnte zwischen sieben und sieben jeder kommen und gehen, wann er wollte. Termine bei und mit Kunden jedoch waren in Stein gemeißelt, keine Frage. Aber das war ein Selbstverständnis der Branche, für das Victoria keine Werbung machen musste. So unkonventionell ECG arbeitete, so konservativ war der öffentliche Auftritt.
In der letzten Kurve vor dem Café brach das Heck des Mustangs aus, da Victoria ein wenig zu sportlich abgebogen war; im allerletzten Moment fing sie den Wagen wieder ein und hoffte, dass Magnus es nicht mitbekommen hatte.
Hatte er aber. Er stand an den Kofferraum des A4 gelehnt und grinste. Als der Wagen in der Parklücke zum Stehen gekommen war, öffnete er ihr die Tür und half ihr beim Aussteigen.
»Rasant ...«, spottete er, schloss die Autotür und Victoria in seine Arme.
»Ich hatte gehofft, du würdest drinnen warten ...«, gab sie kleinlaut zurück und zog die Nase kraus.
»Hätte ich auch, aber ich habe dich schon gehört, als du vor fünf Minuten die Autobahn herunter gekommen sein musst. Du machst einen Höllenlärm ...« Magnus lachte und hob ihr Kinn mit seinem Finger.
»Ja, das ist wohl wahr. Für Schleichfahrten ist das Baby gänzlich ungeeignet.«
»Beschweren sich deine Nachbarn nicht, wenn du mal spät heimkommst?«
»Nö. Die meisten sind taub oder mit mir verwandt. Nichts zu befürchten.«
»Na dann ...« Er zwinkerte ihr charmant zu. Wie am Abend zuvor lehnte er seine Stirn gegen ihre und stupste sie an. Mit der Rose strich er über ihre Wange. Victoria schmiegte sich an ihn, schloss die Augen und fuhr mit dem Kopf seine Berührungen nach.
Magnus. Der Große. Der Bedeutende, schoss es ihr in den Sinn und als sie die Augen wieder öffnete, blinzelten ihr die beiden Smaragde entgegen. Sie legte eine Hand in seinen Nacken und zog ihn näher zu sich heran, begann, ihn zu kraulen und sah zu ihm auf. Er küsste ihre Stirn und nahm ihre Hand, legte die Rose hinein und sah Victoria an.
»Sollen wir reingehen ... oder?«
»Hmmm ... Sollen ...« Sie blickte verlegen zur Seite. »Ich hab noch ein paar Unterlagen, die ich Jo geben wollte. Außerdem ... Ich kam noch nicht dazu, was zu essen und in meinem Kühlschrank herrscht gähnende Leere. Ich befürchte, wir sollten die Gunst der Stunde nutzen.«
»Kein Problem. Ich wollte nur gefragt haben ...« Mit seinen Lippen fuhr er die Konturen ihres Ohres nach und küsste sie auf die Wange. Nur zu gern hätte er an dieser Stelle weiter erkundet, jedoch rief er sich zur Zurückhaltung auf. Immerhin standen sie an einem der belebtesten Plätze in Eschberg und er wollte sie beide nicht Verlegenheit bringen. Die leichte Gänsehaut und das leise Schnurren, das Victoria entwichen war, waren ihm aber nicht verborgen geblieben. Auch nicht der festere Griff um seine Hand, als sie erneut die Tür öffnete, die Mappe mit den Unterlagen vom Sitz nahm und sanft an seinem Handgelenk zog, als sie losgehen wollte.
Im Café übergab sie die Mappe einer der Angestellten und bat, sie Zeilinger auszuhändigen. Das Daily war für einen Dienstagabend gut besucht, aber sie ergatterten trotzdem einen Platz auf dem voluminösen Ledersofa in der Ecke. Ohne zu zögern lehnte sich Victoria in Magnus‹ Arm und ohne zu fragen, löste er den strengen Knoten aus ihrem Haar und spielte mit einer Strähne.
»Weißt du eigentlich, dass ich, bis auf meinen Friseur Dominik, bisher jedem anderen Mann mit einem gewaltsamen Ableben gedroht habe, wenn er sich an meinen Haaren vergriffen hat!?«
»Okay ... Damit habe ich jetzt nicht gerechnet ... Böse?«
»Nein, ganz und gar nicht.« Sie blickte seitlich zu ihm auf und schmunzelte. Als Magnus ihr einen Kuss auf die Wange gab, erschien die Kellnerin, um die Bestellung aufzunehmen.
»Essen ... Da war ja was ...«, seufzte Victoria. »Ich bekomme bitte den Double Daily Burger,