Sie saß morgens die erste Stunde in der Lobby, einfach, um da zu sein, sichtbar zu sein, die ersten Arbeiten zu erledigen, aber auch, um ansprechbar zu sein. Anfangs hatte es die Mitarbeiter irritiert, inzwischen aber war ihr kleines Sit-in zu dieser frühen Zeit eine Institution. Man konnte sich zwar ohnehin jederzeit an Victoria wenden, aber gerade in diesen Stunden kamen oft die konstruktivsten und besten Ideen zustande. Um neun würde sie dann den Morning-Huddle mit den Abteilungsleitern besuchen, nur um auf dem Stand der Dinge zu sein, und ab halb zehn ging es dann »ans Eingemachte« wie ihr Vater zu sagen pflegte.
»Guten Morgen, Victoria.«
»Guten Morgen, Markus. Na, wie geht es Marie?«
»Prima, sie geht ab Montag in den Mutterschutz. Kann sich auch kaum noch bewegen, die Ärmste.«
»O je, kann ich mir gut vorstellen. Sie hat sich ja neulich schon so gekugelt. Ist das mit deiner Elternzeit eigentlich jetzt geklärt?«
»Ja, alles gut. Firat und ich haben das gestern final besprochen und terminiert.«
»Prima. Dann drück ich mal die Daumen, grüß Marie ganz lieb.«
»Mach ich, bis später!«
Kleine Begegnungen wie diese mit Markus Bruckmann waren es, die Victoria am Puls der Firma blieben ließen. Sie konnte sich kaum noch vorstellen, sich morgens in ihrem Büro zu verschanzen und erst abends aus ihrem Mauseloch zu krabbeln.
Es war gerade halb Acht, als sie zum Handy griff. Magnus müsste um diese Zeit eigentlich auch wach sein. Wenn nicht, würde er ihr das sicherlich verzeihen.
💎 Guten Morgen, der Herr. Ich hoffe, du hast gut geschlafen und schön geträumt.
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.
🎓 Guten Morgen, die Dame. Gut geschlafen ist relativ. Es war sehr einsam ... Aber ich bin froh, dass ich den gestrigen Abend nicht geträumt habe. Gab es Mückenalarm oder konntest du unbehelligt nächtigen?
💎 Ich habe geschlafen wie ein Murmeltier. Komisch, das mit der Einsamkeit kommt mir bekannt vor ... Etwas mehr als zehn Stunden noch ...
🎓 Erinner mich bitte nicht daran ... Es kommt mir vor, wie eine Ewigkeit ... Werde jetzt losfahren, bin dann leider erst mal offline ... Wusste übrigens nicht, wann du morgens anfängst, wollte dich nicht wecken. Sonst hätte ich dich aber um neun angeschrieben ...
💎 Mach dir keinen Stress. Ich habe auch fast eine Stunde überlegt, ab wann ich dir wohl schreiben kann ... Ich muss auch gleich ins erste Meeting.
🎓 Freu mich auf nachher ... 😚
💎 Ich mich auch. 💋
Magnus stieg ins Auto, legte die beiden Gürteltiere auf den Beifahrersitz und startete den Motor. Noch bevor er sich angeschnallt hatte, läutete sein Handy über die Freisprecheinrichtung.
»Hallo Tobias, was verschafft mir die Ehre, so früh am Morgen?«
»Moin ... Bist du im Auto? Das hallt so fürchterlich ...«
»Ja ... Leider, aber das kennst du ja inzwischen. Also, schieß los. Was gibt es?«
»Leider keine guten Neuigkeiten. Der zuständige Richter, der deine Scheidung bearbeitet, ist längerfristig krank und deine geliebte Fast-Ex-Frau besteht per anwaltlicher Mitteilung weiterhin auf den Trennungsunterhalt. Auch wenn sie Vollzeit arbeitet und du die Kredite zahlst. Ich weiß, dass das Schwachsinn ist, aber du kannst besser jetzt zu viel zahlen und dir das nachher zurückholen, als dass du aus irgendeinem Grund doch noch auf alles auf einen Schlag zahlen musst.«
»Mal ohne Quatsch jetzt, wir beide haben Jura studiert und das sogar sehr erfolgreich. Und ich lass mich von ihr über den Tisch ziehen? Tobias, in was für einem System leben wir?«
»Hm. Ich weiß ja, was du meinst. Aber sicher ist sicher ... Sieh nur zu, dass du alle Unterlagen aufbewahrst, insbesondere die Kontoauszüge.«
»Tobias, ich bin nicht blöd ... Alles ordentlich abgeheftet. Ich krieg nur gerade die Krise und frag mich, ob ihr irgendwie klar ist, dass ich quasi kurz vor dem Existenzminimum lebe, während sie sich in Berlin ein schönes Leben macht ...«
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie das weiß und dass sie genau dieses Ziel verfolgt. Aber mir will nicht in den Sinn, dass sie nicht aufgibt. Sie wird keinen nachehelichen Unterhalt erstreiten können. Dafür wart ihr zu kurz verheiratet, es gibt keine Kinder und sie kann sich selbst bestens versorgen ... Wenn ich so drüber nachdenke ... Eigentlich eine Farce.«
»Ach, was du nicht sagst. Aber weißt du, ich bin Richter, nicht Advokat. Das ist dein Job. Es wäre nur schön, wenn ich bis zur Scheidung nicht in die Privatinsolvenz laufe. Okay?«
»Ich tu mein Bestes.«
»Ich hoffe es. Für dich. Für mich. Für Ilona.«
»Kommst du nach Bärenthal?«
»Ja, denke schon. War ja so geplant. Ich hoffe nur, dass Ilona dort nicht auftaucht. Sie hat ja manchmal so seltsame Anwandlungen ...«
»Kann ich mir kaum vorstellen. Die hat sich im Verein kaum gemeldet, seit eurer Trennung. Aber vielleicht kommt sie ja, um dir zum Geburtstag zu gratulieren.«
»Au fein. Da wird Victoria sich freuen ...«
»Victoria?«
»Jap. Erzähle ich dir ein anderes Mal, ich bin gleich da.«
»Heeeeeyyyyy, stopp! Nix da! Erzähl! Ich, als dein Anwalt, muss das wissen!«
»Jetzt schwindelst du aber ... Außerdem: Ich weiß es ja selbst noch nicht. Ich hab sie gestern erst kennengelernt. Aber irgendwie ...«
»Nachtigall ick hör dir trapsen ... Magnus ist verliiiie-hiebt ...«
»Ja, so viel kann ich wohl schon sagen ...«
»Und du bringst sie mit?«
»Na, nicht wirklich. Sie ist selber Mitglied einer Mittelaltergruppe und hatte Bärenthal schon eingeplant. Aber vorher ist sie zwei Wochen in Dubai und wird wohl erst spät dazustoßen.«
»Dubai ... So, so. Klingt interessant.«
»Ja, beruflich irgendwie. Sie arbeitet als Unternehmensberaterin. Aber Tobias, ich muss jetzt echt rein. Ich hab um halb zehn die erste Verhandlung und noch nichts vorbereitet.«
»Na, dann viel Spaß.«
»Danke. Und, bleib bitte eng an der Sache mit Ilona dran ... ja?«
»Ehrensache. Wirst schon sehen, in ein paar Wochen ist das durch.«
»Ich verlass mich auf dich. Bis dahin.«
»Allons-y ...«
In seinem Büro warteten Berge von Akten und Thomas Bachmann auf Magnus. Der Bürgermeister von Eschberg war früh dran für seinen Termin, es sollte auch nicht lange dauern. Sie hatten sich vor Magnus‹ Amtsantritt kurz telefonisch kennengelernt, ihr erstes Treffen sollte ein ebenso kurzes One-on-one werden, nur, dass man sich mal gesehen hatte.
Als Magnus zur Tür hereinkam, fiel ihm die Sache wieder siedend heiß ein und er war froh, sich wenigstens an den Namen zu erinnern.
»Herr Bachmann, bin ich zu spät? Guten Morgen.« Er deutete ihm, Platz zu behalten, und schüttelte ihm flink die Hand.
»Nein, ich bin zu früh. Sorry. Frau Scharnweber hat mich reingelassen.«
»Schön ... Wenigstens Sie. Ich habe gestern fast zwei Stunden im Café Daily gewartet,