»Herr Doktor, ich weiß selbst, dass ich augenscheinlich nicht ganz normal bin ...«, spottete sie und knabberte an der ersten Pommes. »Um dich vollends zu verwirren: Ich bin süchtig nach Red Bull, kann nicht auf flachen Schuhen laufen und fahre ein Muscle-Car. Aber ich habe Angst vor dem freien Fall und kann nicht stricken.«
Magnus kugelte sich beinahe vor Lachen. »Ja, danke. Das hat mich jetzt tatsächlich restlos aus dem Konzept gebracht. Du kannst also nicht stricken? Das kann ja sogar ich ... Du bist sicherlich nicht viel jünger als ich und damals stand das in der Grundschule überall auf dem Stundenplan ...«
»Ich bin 29. Also, wenn man dem Zeitungsartikel trauen darf, damit gut 4 Jahre jünger als du. Und ja, es stand auf dem Stundenplan. Handarbeiten und Werken. Die einzige Fünf, die ich jemals auf dem Zeugnis hatte.« Victoria lachte und lutschte genüsslich die Mayonnaise von der Pommes. Dass Magnus sie in diesem Moment sehr genau angesehen hatte, wurde ihr erst klar, als er fragend die Augenbraue hob. Sie schloss die Augen für einen Moment und grinste.
»Ähm. Ja. Hab ich gerade mit dir und der Pommes geflirtet?«
»Neeeeeiiiin, niemals.« Magnus lachte und pikte ein Stück Currywurst auf die Gabel. Natürlich flirtete sie mit ihm, das war so klar wie der wolkenfreie Abendhimmel.
Er hielt ihr eine Pommes hin und sie schnappte danach. Victoria biss sich auf die Unterlippe und schmunzelte. Magnus war so anders als am Morgen, jetzt fügte sich ihr Bild von ihm. Unterwegs hatte er ihr erzählt, was vor ihrem Zusammenstoß im Café passiert war und daraufhin hatte sie ihm den Tonfall noch weniger übel genommen.
Sein Lächeln faszinierte sie, diese kleinen Fältchen im Mundwinkel, die zum Vorschein kamen, wenn er sie angrinste. Und von diesem smaragdgrünen Funkeln in seinen Augen konnte sie nicht genug bekommen.
»Sag mal, was habe ich mir denn unter Muscle-Car vorzustellen?«, fragte Magnus sie, um das Thema zu wechseln und ihrem Blick auszuweichen, dem er nicht lange standhalten konnte.
»Wenn du mir das Buch noch bis zum Parkplatz bringst, wirst du es sehen.« Mit einem Mal zögerte sie. »Also, nicht, dass du mich für eine Angeberin hältst ... Ich steh halt auf schöne Autos und für den Luxus, den ich mir gönne, arbeite ich auch ziemlich viel.«
»Ich habe eigentlich nichts anderes gedacht. Wie kommst du darauf, dass du dich im Vorfeld verteidigen müsstest?«
Ja, wie kam sie darauf? Weil es immer so war. Wenn Victoria sich verliebte. Sobald klar war, wer sie war, gab es genau zwei Alternativen. Entweder die Männer versuchten, sie auszunutzen und sich an ihr zu bereichern. Dazu müssten sie aber früher aufstehen. Oder sie nahmen Reißaus. Bei Magnus tippte sie eher auf die zweite Variante.
»Hm. Was soll ich sagen!?« Victoria legte die Gabel auf den Teller und fuhr fort. »Das mit dem Auto ist mir vorhin eher so rausgerutscht. Ich muss halt oft rechtfertigen, warum ich wie handle. Und Erfolg ruft halt auch gern Neider auf den Plan. Dürftest du ja auch kennen. Oder?«
»Ich verstehe, was du meinst. Nur so richtig erfolgreich war ich, abgesehen von meiner Versetzung hierher, in den letzten Monaten nicht. Ist ein bisschen was schiefgelaufen und ich bin froh, wenn ich hier einen Neuanfang hinbekomme.« Resigniert lehnte Magnus sich zurück. Klar, dass das irgendwann auf den Tisch kommen musste. Aber so früh? Aber wann sonst?
»Ich bohre auch nicht weiter ... Keine Panik. Ich glaube, wir haben alle unsere Leichen im Keller ...«
Sie biss in ihre Currywurst und wischte sich mit der Serviette die Sauce aus dem Mundwinkel.
Das lockte Magnus nun wieder aus der Reserve. Eigentlich lief es gerade noch in die Richtung, dass er sich einkapseln würde, aber jetzt erwachte seine Neugier.
»So, so. Du hast also Leichen im Keller. Mit den High Heels erdolcht?« Er nippte an seiner Coke.
»Nein!« Victoria lachte. »Sollte ich jemanden erdolchen wollen, habe ich dafür echte Waffen. Das Mittelalterbuch kommt nicht von ungefähr, ich bin quasi ›in der Szene‹ unterwegs.«
»Ernsthaft? Also so richtig Re-Enactment mit Gewandung, Lagern und allem Drum und Dran?« Er stützte den Kopf in die Hand und sah sie fragend an.
»Ja, ernsthaft. Und so wie du sprichst, hört es sich an, als würdest du dich auskennen!?«
»Ein bisschen. Wobei ›ein bisschen‹ schon untertrieben ist. Ich betreibe das momentan nicht ganz so intensiv, aber in drei Wochen bin ich in Bärenthal auf dem Markt mit meinen Leuten. Ein bisschen abschalten, mal wieder Schwertkampf trainieren und so.«
»Du siehst mich sehr verwundert, Herr Dr. Brandt ... Damit habe ich nicht gerechnet ...« Victorias Herz schlug schneller. So viele Gemeinsamkeiten; rein statistisch betrachtet war das schon fast unwahrscheinlich, bei ihrer Interessenlage. »Okay, ich will dich eigentlich nicht ausfragen, aber ...«
Er zwinkerte ihr zu. »Frag ...«
»Welche Epoche?«
»Hochmittelalter. Raum Mitteldeutschland.«
»Immerhin: kein SpäMi ...« Sie lachte. Die Leute, die sich auf das Spätmittelalter konzentrierten waren ihr suspekt. Magnus stand auf der richtigen Seite. Und er kicherte, deutete mit einer Handbewegung an, dass sie weiterfragen sollte.
»Ich hab mich auch bei 1220 ungefähr festgelegt ... Und um offen zu sein: Bärenthal hatte ich ebenfalls auf dem Radar für diesen Sommer. Ich bin zwar vorher beruflich unterwegs, aber vielleicht sehen wir uns dort ja dann ... By the way – Was für ein Mountainbike fährst du?« Bevor er antworten konnte, hob sie die Hand. »Halt, lass mich raten. Ein Fullsuspension, wahrscheinlich nichts von der Stange, eher customized.«
»Du auch?«
»Ja.«
»Rotwild?«
»Ja.«
»Wow.«
Für einen Moment lehnten sich beide zurück und sahen einander tief in die Augen. Den Hersteller der Bikes kannte man als Mountainbiker, in der Regel aber nicht als Normal-Fahrradfahrer. Solide Bikes der gehobenen Preisklasse, hoher Spaßfaktor und exzellenter Service.
Victoria neigte den Kopf und senkte die Stimme. »Das ist schon ein bisschen spooky, oder?«
»Ja. Ein bisschen. Schlimm?«
»Nein. Ich glaube nicht. Darf ich weiterfragen?«
»Ja, immer. Auch ohne zu fragen, ob du fragen darfst.« Magnus lachte. Eigentlich war er der Fragenspezialist. Aber auch wenn hier Victoria das Verhör führte, erfuhr er ganz nebenbei einiges über sie.
»Okay, ich mach mir jetzt mal kurz eine Notiz ins Handy und dann geht’s los.« Wenige Sekunden später fragte sie: »Pepsi oder Coke?«
Sie machte also mit den Klassikern weiter. »Eigentlich Dr. Pepper. Aber, wie man sieht, tut es zur Not auch Coca Cola.«
»Mhm ... Herr Doktor steht also auf Dr. Pepper ... McDonald’s oder Burger King?«
»Als ehemaliger Mitarbeiter des ›Restaurant zum goldenen M‹ definitiv McDonald’s.«
»Sieh an ...« Und wieder kam ihr dieses 1000-Watt-Strahlen über die Lippen, das sich den direkten Weg in Magnus‹ Herz bahnte. »Katze oder Hund?«
»Momentan nur Teddybär, prinzipiell aber eher Katze.« Er versuchte in ihrem Gesicht zu lesen, ob die Antwort »richtig« war. Pokerface. Na fein.
»Letzte Frage. Evangelisch oder katholisch?«
»Äääähhhm, weder noch. Pastafari.«
»Aye.«
»Aye? Jetzt ist es spooky.« Völlig entgeistert sah er Victoria an, deren Pokerface sich löste, als sie ihm ihr Handy unter die Nase hielt.
»Nur damit es nicht heißt, ich hätte geschummelt!«
Magnus las ihre Notiz von vor zwei Minuten.
Meine