Am liebsten wäre er nach der mittleren Reife auf die höhere Handelsschule gegangen, um das kaufmännische Abitur zu machen. Aber die Mutter hat dem Sechzehnjährigen schon eine Lehrstelle als Speditionskaufmann bei Kühne und Nagel besorgt. Die Ausbildung bei der international tätigen Speditionsfirma, die häufige Tätigkeit im Hamburger Hafen, das Aufsuchen der Konsulate, wecken in ihm das Fernweh. Es wird ihn Zeit seines Lebens begleiten.
Als das Ende seiner Lehrzeit näher rückt, seine Freunde und Freundinnen das Abitur machen und sich auf ein Studium vorbereiten, nagt es an Henkels Selbstbewusstsein. Er möchte nicht von seinen Freunden überholt werden, will nicht als der hängen gebliebene Mittelschüler gelten, der es nur zu einer Lehre gebracht hat. „Das hat mich unwahrscheinlich gewurmt“, erinnert er sich. Eine verletzungsbedingte Stiefelunverträglichkeit bewahrt ihn davor, zur Bundeswehr eingezogen zu werden. Henkel wägt zwischen drei sich ihm bietenden Alternativen ab: Entweder bei Kühne und Nagel als kaufmännischer Angestellter zu bleiben, oder das mütterliche Geschäft, den Verkauf von Papierprodukten, zu übernehmen. Darin kann er aber nicht den Sinn seines Lebens sehen. Die dritte eröffnet sich ihm bei der Lektüre der Zeitung. Er hat sich schon als älterer Schüler zu einem gründlichen, vor allem an Politik interessierten Zeitungsleser entwickelt. Henkel entdeckt einen Artikel über ein Institut des zweiten Bildungsweges. Es heißt damals noch „Akademie für Gemeinwirtschaft“, für gemeine Wirtschaft, wie Henkels Freunde lästern. Später wird aus dieser Akademie die Hochschule für Wirtschaft und Politik. 2005 wird die Hochschule, an der viele Gewerkschaftsführer, Politiker wie Björn Engholm und Unternehmenschefs wie Heinz Ruhnau ausgebildet werden, als Fachbereich Sozialökonomie in die Hamburger Universität eingegliedert.
Henkel beschließt, sich um einen Studienplatz an der Akademie zu bewerben, obwohl er erst neunzehn Jahre alt ist. Das Aufnahmealter liegt bei zwanzig Jahren. Um die 80 Studienplätze bewerben sich 1800 junge Menschen. Das Prüfungsthema für die schriftliche Arbeit lautet: „Nutzen und Fragwürdigkeit des Vorstoßes des Menschen in den Weltraum“. Henkel schildert das Pro und Kontra und kommt zu dem Ergebnis, die Menschen sollten sich auf das Abenteuer einlassen. Später erfährt er, sein Aufsatz sei mit „Sehr gut“ bewertet worden.
Er besteht die schriftliche Prüfung und wird zu einem Gespräch eingeladen. Einer der strengen Herren der Prüfungskommission bemerkt, dass Henkel für die Zulassung zum Studium zu jung ist und weist ihn mit der gut gemeinten Bemerkung ab, er könne in einem Jahr wiederkommen. Für Henkel bricht eine Welt zusammen. Er reklamiert, Alter hin oder her, er habe doch die schriftliche Prüfung bestanden, und protestiert, die Abweisung raube ihm alle Perspektiven. Henkel redet sich in Rage. Dann kommt ihm die rettende Idee, die Unternehmerkarte zu spielen. Trotz mangelnder Erfahrung ist ihm klar, dass die Akademie im Vergleich zu den traditionellen Universitäten unter dem Imageproblem leidet, die Kaderschmiede der Gewerkschaften und der Gemeinwirtschaft zu sein. Unternehmerkinder an der Akademie könnten helfen, denkt sich Henkel, das Image zu korrigieren. Als die Prüfer fragen, was er nach dem Studium machen wolle, gibt er an, das Geschäft seiner Mutter übernehmen zu wollen. Henkel hat die Schwachstelle in der Psyche der Professoren gefunden. Seine Beharrlichkeit imponiert den Herren. Er bekommt einen Studienplatz und wird der jüngste Student der Akademie.
Die Aufnahme an der Akademie für Gemeinwirtschaft wertet Henkel als die entscheidende Weichenstellung seines Lebens. Der Spätentwickler hat eine zweite Chance erhalten, kann ohne Abitur studieren. Diese zweite Chance nutzt er, studiert fleißig, macht 1961 sein Abschlussexamen. Es schließt die allgemeine Hochschulreife ein. Nach einem Gespräch mit der Mutter entschließt sich Henkel jedoch nicht weiter zu studieren, obwohl ihm drei Semester angerechnet worden wären, sondern sich einen guten Job zu suchen.
Nach vielen Jahren fragt er sich, ob es nach dem Studium nicht doch besser gewesen wäre, er hätte sich selbstständig gemacht, das Geschäft der Mutter übernommen und es in ein PC-Geschäft umgewandelt. Mit PC-Firmen lässt sich damals viel Geld verdienen. Er hätte, spinnt Henkel den Faden weiter, das Geschäft dann Ende der neunziger Jahre verkaufen und einige Millionen erlösen können, wie es viele andere getan hätten. Doch die Selbstständigkeit bleibt ein Gedankenspiel. Henkel bewirbt sich bei der Schlieker-Werft, die einen EDV-Spezialisten sucht. Davon versteht er noch wenig, aber bekommt eine Zusage. Er bewirbt sich auch bei Infratest, dem Münchener Umfrageinstitut. Das Institut stellt ihm ein Stipendium in Aussicht. Dann sticht ihm eine ganzseitige Anzeige der IBM ins Auge. Die Computerfirma sucht Kandidaten für ihr Management-Trainingsprogramm. Henkel ist für das Programm zu jung und nicht qualifiziert.
Fünf Trainee-Stellen sind zu vergeben, hundert Bewerber reißen sich darum, erfahrene, hochgebildete, alle weit älter als Henkel. Die zwei Jobs, die er schon in der Tasche hat, machen ihn mutig. Henkel bewirbt sich, obwohl er sich keine Chance ausrechnet. Er möchte die Reisespesen einstreichen.
Die Bewerber müssen sich einem Test-Marathon stellen. Einer von ihnen hat ein Doppelstudium, ist Diplomkaufmann und Ingenieur, Henkel ist nur Schmalspurkaufmann. Die Tests machen Henkel Spaß, er zeigt Ehrgeiz, will sich gegenüber den Älteren beweisen. Am nächsten Tag wird er zur mündlichen Prüfung gebeten. Die schriftliche hat er bestanden, aber jetzt sieht alles nach einem schnellen Abgang aus. Einer der drei Topmanager, die die Kandidaten, auswählen, entdeckt, dass Henkel mit 21 Jahren für das Programm viel zu jung ist. IBM suche berufserfahrene Leute mit akademischer Ausbildung.
So schnell lässt sich Henkel aber nicht entmutigen. Er verweist auf seine Ausbildung zum Speditionskaufmann und auf seinen Studienabschluss, meistert das Frage- und Antwortspiel psychologisch geschickt und erhält das Angebot, für eine Vertriebslaufbahn ausgebildet zu werden. Für das Management-Traineeprogramm sei er nun einmal zu jung.
Die Vertriebslaufbahn ist die klassische Karriere bei IBM. Aber Henkel lehnt das Alternativangebot ab. Darum habe er sich nicht beworben, er sei wegen des Management-Trainee-Programms gekommen, hält er den konsternierten IBM-Managern entgegen. Um die Situation zu entspannen, fragt einer der Manager nach seinen Hobbys. Henkel antwortet „Musik“. Das stimmt, denn Henkel ist ein Jazz-Fan und auch ein Fan der Beatles. Das sagt er aber nicht, als die Nachfrage kommt „Welche Musik?“ Er sagt Händel. Auf die weitere Frage, was ihm an Händel gefalle, antwortet er: „Händel swingt“. Henkel bemerkt, dass sich das Blatt zu seinen Gunsten wendet, er lobt die Atmosphäre bei IBM und äußert den Wunsch, bei IBM zu bleiben. Die Hartnäckigkeit zahlt sich aus. Henkel bekommt eine der Traineestellen.
Seinen Eintritt in die amerikanische Firma sieht Henkel als Glücksfall. Bei Siemens, Krupp, VW oder beim Staat wäre er mit seiner Art jämmerlich gescheitert, mutmaßt Henkel. Weshalb die IBM trotz des Strukturwandels, in dem viele Firmen untergegangen sind, überlebt hat, führt Henkel auf wenige Prinzipien zurück. Dazu zählen für ihn der Respekt vor dem Einzelnen, die Ehrlichkeit gegenüber Kunden, das Verbot jeglicher Bestechung und die Unbestechlichkeit der Mitarbeiter und Manager, auch die Verbannung von Alkohol während der Arbeit und bei Veranstaltungen.
Die kastenlose Unternehmenskultur bei IBM, der unkomplizierte, kameradschaftliche Umgang von Topmanagern und Mitarbeitern faszinieren Henkel. Das „Open Door“-Programm erlaubt es jedem Mitarbeiter, sich bei höheren Vorgesetzten bis hin zur Unternehmensführung über den direkten Vorgesetzten zu beschweren, ohne Nachteile befürchten zu müssen. Einmal im Jahr werden die Mitarbeiter nach Kriterien beurteilt, die Vorgesetzte und Mitarbeiter gemeinsam in einem Beratungs- und Förderungsgespräch erarbeitet haben. Allein die Leistung zählt und zahlt sich aus.
Alle zwei Jahre werden die Mitarbeiter anonym befragt, was sie von den Produkten und von den Vorgesetzten halten. Die Beurteilung durch die Mitarbeiter wird den Managern mitgeteilt. Dabei ist sichergestellt, dass der Vorgesetzte auch nicht indirekt feststellen kann, wer ihn wie beurteilt hat. Das System sorgt dafür, dass Manager, die ihre Mitarbeiter schlecht behandeln,